Addu – das südlichste Atoll der Malediven
Der laute Ruf des Muezzins vermischt sich mit dem Prasseln des Regens. Den ganzen Tag über trommeln immer wieder ungeheure Tropengüsse auf die Häuserdächer.
Auf den sandigen Quartierstrassen haben sich Wasserlachen gebildet – manche so breit wie die Fahrspur selbst. Mit Regenschirmen ausgerüstet, balancieren wir an den riesigen Pfützen vorbei, schaffen es aber nicht immer, keine nassen Füsse zu kriegen. Das Februarwetter ist auf den Malediven seit Tagen launisch – wir sind betrübt. Wo bleibt er bloss, der heitere Sonnenschein? „Dieses unbeständige, nasse Wetter ist nicht üblich für die in der Regel trockenen Monate Januar bis März“, meint auch Hassan stirnrunzelnd und wirft einen skeptischen Blick in den bewölkten Himmel.
Hassan ist Malediver und der Gastgeber der Pension „True South“, wo wir eines der sieben einfachen Zimmer bewohnen. Zwei nasse Tage sind inzwischen verstrichen, seit wir hier gelandet sind – hier im Addu Atoll, dem südlichsten Flecken des Landes. Was ist ein Atoll eigentlich genau? Es handelt sich dabei um ein ringförmiges Riff, das eine Lagune mit Inseln und Sandbänken umschliesst. Der Begriff „Atolhu“ entstammt dem Dhivevi, der Sprache der Malediven. Das Addu Atoll besteht aus einem herzförmigen Ring von 27 Inseln und breitet sich knapp südlich des Äquators aus. Die Hauptstadt Male liegt über 500 Kilometer nordwärts, etwa 90 Flugminuten entfernt. Und weiter südlich: Wasser bis hinunter zur Antarktis. Das Addu Atoll ist mit 15 Kilometern Durchmesser ein relativ kleines Atoll. Eine Besonderheit gegenüber allen anderen Atollen der Malediven besteht darin, dass 80 Prozent des Atollrings aus der Meeresoberfläche herausragen und dicht bewachsene Inseln bilden, ansonsten ist das Verhältnis meistens gerade umgekehrt. Damit verfügt das kleine Addu Atoll wiederum über eine grosse Landfläche, wo insgesamt ungefähr 30’000 Menschen leben. Auf der südlichsten Insel Gan wurde von den Briten während des Zweiten Weltkrieges ein Stützpunkt der Royal Air Force errichtet, der später zum internationalen Flughafen umgebaut wurde.
Unser kleines Gästehaus liegt auf der übernächsten Insel Maradhoo, allerdings nicht mehr unmittelbar am Indischen Ozean, was uns verblüfft. Das Meer ist weg und die Insel neu doppelt so breit – wir wohnen sozusagen in der Inselmitte. Die Einheimischen benötigen angeblich mehr Platz, und es wurde kürzlich Land aufgeschüttet. An den hübschen Palmengarten mit schattigen Liegestühlen grenzt nun ein scheinbar endloses Sandmeer, topfeben bis zum Horizont. Eine blendend weisse, wüstenhafte Einöde. Oder positiv ausgedrückt: ein 500 Meter breiter Strand. „Das bleibt für mindestens fünf Jahre so“, klärt uns der sympathische Hassan auf, „der Sand muss sich erst verfestigen, bevor darauf gebaut werden kann.“ Die Enttäuschung über die verschwundene Meersicht halbwegs verkraftet, gefällt es uns hier trotzdem. Die Nachbarschaft ist ruhig, der Garten eine üppig grüne Idylle. Wenn abends kurz nach sechs Uhr die Sonne untergeht, scheint am Horizont der orangerot verfärbte Himmel zu glühen.
Auf dem Tauchboot…
Anderntags ist das Wetter noch immer schlecht. Bei Regen und Wind machen wir uns am frühen Morgen trotzdem zum Tauchen auf. Der Kapitän steuert das Tauchschiff, ein Dhoni, durch die geschützte Lagune im Inneren des Atolls zum Aussenriff. Dhonis sind traditionelle maledivische Holzboote, hergestellt aus dem harten und widerstandsfähigen Holz der Kokospalmen. Ununterbrochen streift sein Blick über das gekräuselte Wasser. „Delfine, da vorne“, ruft plötzlich einer der anderen Tauchgäste unverhofft und deutet mit der Hand zum Bug. Eine grosse Schule der Meeressäuger schwimmt eine Weile vor oder neben dem Tauchschiff her. Übermütig schiessen vereinzelte Delfine in eleganten Sprüngen aus dem Wasser. Was für eine Show – und das vor dem ersten Tauchgang.
Am Aussenriff angelangt, wippt das Boot im aufgebrachten Ozean hin und her, als wir uns für den ersten Tauchgang bereit machen. Die Ausrüstung montiert und die Pressluftflasche geschultert, hüpfen wir voller Neugier ins Wasser und sinken sachte ins weite Blau. Weil sich am Himmel noch immer graue Wolken ballen, ist es auch in der Tiefe entsprechend düster. Ohne Sonnenschein kommen die Farben der Unterwasserwelt weniger zur Geltung, allerdings ist die Sichtweite unter Wasser überraschend gut. In der leichten Strömung lassen wir uns der mit Korallen bewachsenen Steilwand entlang treiben und beobachten die vorbeiziehende Fischwelt. An der Spitze unserer Truppe ist die ortskundige Tauchführerin JiJi, eine Marrokanerin, die heutzutage in den Malediven daheim ist, zusammen mit ihrem Ehemann Marc, dem Gründer der Tauchbasis.
Gigantische Begegnungen am Manta Point
Endlich. Nach drei Tagen unter einer Wolkendecke und Unmengen an Regen, zeigen sich morgens vielversprechend erste Sonnenstrahlen. Zerzauste Wolkenfetzen geben stellenweise blauen Himmel frei, das Meer ist glatt, und schon bald ist es heiss. „Das normale Februarwetter ist zurück“, schmunzelt JiJi versonnen, und auch wir sind dankbar. Heute tauchen wir in einem Kanal, der die vom Riff geschützte Lagune mit dem offenen Meer verbindet. Ausser bei Gezeitenwechsel herrscht in den Kanälen meistens Strömung. Jetzt zieht das Wasser in die Lagune hinein und die Verhältnisse sind somit ideal. Der berühmte Tauchplatz heisst „Manta Point“. Wie es der Name verrät, besteht hier die Chance, Mantas zu sichten – und das ganzjährig, was anderswo in den Malediven meistens nur saisonal der Fall ist.
Das Tauchboot lädt uns ab, schleunig lassen wir uns absinken und peilen die Riffkante an, wo wir den Kanal entlang in der Strömung treiben. In Kürze erreichen wir den begehrten Spot, die Manta-Putzerstation, wo gerade einer der riesigen Rochen innehält und sich dabei Kiemen und Maul von kleinen Putzerfischen säubern lässt. Unsere Riffhaken schon griffbereit, suchen wir nach einer geeigneten Stelle, wo wir uns festmachen können, um von der Strömung nicht fortgeblasen zu werden. Geschafft. Weitere Mantas tauchen auf, und nun können wir das faszinierende Geschehen um uns herum entspannt beobachten. Leider ist unsere Gruppe diesmal nicht die einzige hier unten, aber wir versuchen das Taucherchaos mit den unzähligen Luftbläschen auszublenden und uns auf die majestätischen Mantas zu fokussieren. Ihre riesigen Flossen wie Flügel, mit einer Spannweite von bis zu sieben Metern, steuern sie elegant durchs Meer wie ein Adler durch die Lüfte. Beim Flug durchs Wasser hilft der peitschenförmige, bis zu zwei Meter lange Schwanz als Lenkhilfe. Mit einem Gewicht von ungefähr zwei Tonnen ist der Brocken so schwer wie ein Mittelklassewagen.
Plötzlich segelt einer der Giganten geradewegs auf uns zu, kommt immer näher und näher. Mein Atem stockt, aus Respekt und ebenso vor Freude – so nah war ich einem Mantarochen noch nie. Sein Maul ist sehr breit, in offenem Zustand wie ein riesiger Korb – er könnte uns glatt verschlucken. Doch wir passen nicht in seinen Speiseplan; er ernährt sich von Plankton und ist somit für Menschen ungefährlich. Gebannt blicke ich nach oben, denn das harmlose Geschöpf schwebt nun über mich hinweg. Der Manta mutet wie ein weisser fliegender Teppich an und streift gefühlt beinahe meinen Kopf. Was für ein magischer Moment. Dann dreht er ab, winkt mir mit einem Kopflappen neckisch zu und fliegt davon. Ehrfurchtsvoll gucken wir ihm hinterher, und mein Herz schlägt Purzelbäume.
Noch eine geraume Weile verharren wir eingehakt an Ort und Stelle, während die starke Strömung energisch an unseren Körpern zerrt und mit unglaublicher Kraft vorbeidrückt. Obschon wir uns nicht aktiv bewegen, ist Frieren kein Thema: Bei einer Wassertemperatur von 29 Grad und umhüllt von einer Schicht Neopren, ist es uns stets wohlig warm – auch dann, wenn ein Tauchgang weniger aufregend ist. Als unsere Nullzeit auf 18 Metern unten fast abgelaufen ist, wird es höchste Zeit, uns vom Haken zu befreien. Sofort trägt uns die Strömung davon, weiter in den Kanal hinein. Gleichzeitig steigen wir langsam und stetig höher, bis auf fünf Meter Tiefe, wo wir den üblichen Sicherheitsstopp einlegen, bevor wir den Kopf wieder aus dem Wasser strecken und mit aufgeblasener Tarierweste aufs „Taxi“ warten. Das Tauchboot ankert nie und holt uns stets dort ab, wo es uns gerade hingetrieben hat. Wir sind im Manta-Glück.
Mitten im maledivischen Alltag
Die kommenden Tage wechseln sich Sonne und Wolken ab, das Wetter ist uns über Wasser gut gesinnt, dafür ist die Sicht unter Wasser trüber geworden. Nach jeweils zwei Tauchgängen auf der morgendlichen Bootsausfahrt lassen wir die Nachmittage stets im Liegestuhl im Palmengarten des Gästehauses verstreichen. Weht kein Wind, fühlt es sich bei über 30 Grad auch im Schatten wie in einem Backofen an, und ich nässe mein Strandkleid, um etwas abzukühlen. Nicken wir beim Lesen ein, weckt uns der Muezzin pünktlich um halb vier Uhr, wenn er zum Nachmittagsgebet aufruft. Die Malediver sind ausnahmslos Muslime, der Islam ist Staatsreligion. Fünfmal täglich erinnern Muezzins die Menschen in voller Lautstärke daran, ihre Gebete an Allah zu richten – wie ein göttlicher Wecker. Da sich mehrere Moscheen auf der Insel verteilen und die Gebetszeiten leicht variieren, dauert das Herunterleiern der Koranverse gegen eine halbe Stunde, was uns aber nicht im Geringsten stört. Es gehört schlichtweg zum muslimischen Alltag und hört sich angenehm exotisch an.
Meistens machen wir uns schon am späten Nachmittag zu einem frühen Nachtessen auf. Denn mittags verköstigen wir uns jeweils nur mit Resten vom Frühstück oder Früchten, Snacks und Eiskaffee, was wir in einem der Minimärkte besorgen, und somit meldet sich der Hunger frühzeitig. Auch heute suchen wir wieder das Restaurant Palm Village auf, unser Stammlokal, wo Touristen und Einheimische einkehren und meistens eine erlösende Meeresbrise weht. Die Speisekarte ist vielfältig, aber rasch stellt sich heraus, dass vor allem die indischen Gerichte besonders authentisch sind und lecker schmecken.
Eines Abends spricht uns auf dem Heimweg ein junger Typ an. Der Malediver ist in Plauderlaune, was wir begrüssen, allerdings tun wir uns mit seinem schlecht verständlichen Englisch schwer. Amir lädt uns in sein Haus ein und möchte uns seine Mutter vorstellen, die angeblich gerne ausländischen Besuch empfängt. So kommt es, dass wir kurz darauf in einer fremden Stube auf dem Sofa sitzen, umgeben von Amirs gastfreundlicher Familie. Seiner Mutter fällt das Gehen schwer, schwerfällig schleppt sie sich vom Bett nebenan ins Wohnzimmer, lächelt aber ununterbrochen selig. Offenbar freut sie sich über die Begegnung mit uns Exoten. Amirs kleine Nichte hingegen ist schüchtern und vergräbt ihr Gesicht meistens in den Armen seines Schwagers. Es ist uns unangenehm, dass wir Amir wegen seines Akzents und der unklaren Aussprache kaum verstehen. Deshalb fühlt sich die ganze Situation etwas beklemmend an, und wir verabschieden uns nach einer halben Stunde dankend.
Inzwischen dämmert es draussen. Es ist nach wie vor warm – beinahe zu warm. Das Thermometer zeigt nachts noch 28 Grad an und die Luftfeuchtigkeit beträgt ungefähr 80 Prozent. Ist es obendrein windstill, fühlt sich die Abendluft schwül an und wir schwitzen. Trotzdem geniessen wir es, abends auf der überdachten Terrasse zu sitzen. Mücken sind allgegenwärtig und plagen uns am helllichten Tag genauso wie in der Dunkelheit. Dutzende Geckos lauern an den Wänden auf Beute, schaffen es aber leider nicht, sämtliche dieser Plagegeister zu vertilgen. Wenn die Brandung stark ist und keine Klimaanlage unserer Nachbarn brummt, dringt sogar entferntes Meeresrauschen in unsere Ohren.
Mit dem Fahrrad nach Hithadhoo
Nach fünf Tagen unter Wasser legen wir eine Tauchpause ein. Hassan vermietet uns Fahrräder. Wir möchten in den Nordwesten radeln und die Nachbarinsel Hithadhoo auskundschaften. Es ist die grösste Insel des Atolls. Seit in den 1940er Jahren die Briten sämtliche Inseln der Westseite durch Dämme verbanden, kommt man auf dem Landweg von Gan über Feydhoo und Maradhoo bis nach Hithadhoo. Die 18 Kilometer lange Strasse ist die längste des Landes und einmalig für einen Inselstaat wie die Malediven. Die Märzsonne scheint und schon vormittags ist es schwülheiss, der Fahrtwind macht die Hitze jedoch einen Hauch erträglicher. Die Anstrengung ist wenigstens gering, trotz fehlender Gangschaltung – es geht stets eben aus.
Nach anderthalb Stunden erreichen wir die Nordspitze von Hithadhoo, ein Feuchtgebiet, das unter Naturschutz steht, umgeben von Korallenstränden. Es ist friedlich und mancherorts schattig, im seichten, klaren Wasser ziehen Stachelrochen knapp unter der Wasseroberfläche unermüdlich ihre Runden. Nur wenige Besucher streifen umher. Wir kommen mit kontaktfreudigen Männern ins Gespräch und halten einen interessanten Schwatz. Es sind Vater und Sohn. Ihren südasiatischen Gesichtszügen zufolge nehmen wir an, es sind Einheimische, doch sie kommen aus Sri Lanka. Allerdings leben sie schon seit vielen Jahren in den Malediven, wo die beruflichen Aussichten offenbar besser sind.
Die mehrheitlich im Schachbrettmuster angelegten Strassen von Hithadhoo wirken mittags wie ausgestorben. Im Schatten löffeln Arbeiter ihre Mahlzeit aus Blechbehältern oder halten ein Nickerchen, während die Äquatorsonne gnadenlos vom Himmel knallt. Ausgelaugt und durstig kaufen wir in einem Laden einen eiskalten Kaffee und verbrennen uns daraufhin auf dem schwarzen Velosattel beinahe den Hintern, haben wir dummerweise im Sonnenschein geparkt. Kreuz und quer durch die Kleinstadt, vorbei an Häuserzeilen, Baustellen und Minaretten, peilen wir das Restaurant Suvadive an, das uns Hassan wärmstens empfohlen hat. Im hübschen Lokal stillen wir unter einem rotierenden Ventilator den Hunger, bevor wir gestärkt und etwas abgekühlt am Nachmittag wieder nach Maradhoo zurück pedalen. Der Ausflug im eigenen Rhythmus mit Einblick in den maledivischen Alltag hat sich gelohnt, auch wenn die Inseln, vom Nationalpark einmal abgesehen, rein optisch nicht viel hergeben: Addu ist vielerorts eine staubige Baustelle, mehrere Strände sind der Landgewinnung gewichen, und vielerorts liegt Müll oder Schutt herum. Die Häuser sind schlicht und zweckmässig, häufig ohne jeglichen Farbanstrich. Eine Augenweide hingegen sind die unzähligen Kokospalmen, Bananenbäume, blühenden Büsche und andere tropische Gewächse, die überall wuchern.
Shark Point – den Tigerhaien nah
Die darauffolgenden Tage verbringen wir nochmals unter Wasser. Wenn wir tauchen, wird uns das Frühstück jeweils ins Gästehaus auf die Terrasse geliefert. Der maledivische Service fällt einmal mehr und einmal weniger pünktlich aus, und einmal warten wir gar vergeblich und machen uns schliesslich in aller Eile hinter unseren Snackvorrat. Zu Fuss gelangen wir in einer Viertelstunde zum Hafen, wo das Tauchboot jeweils um acht Uhr loslegt. Nebenan reiht sich ein Fischerkahn an den nächsten, an den Brüstungen flattert bunte Wäsche. Ein grosser Teil der Malediver lebt vom Fischfang, entweder als Fischer, Bootsbauer, Kapitän oder Fischhändler. Es wird noch traditionell mit Rute geangelt. Kleine Rifffische werden nur als Köder gefangen, um am Angelhaken Grossfische anzulocken. Auf niedrigen Hockern nehmen Fischermänner am Kai eifrig ihren Fang aus, einen riesigen Berg silberner Thunfische; rundherum breitet sich eine blutrote Lache aus.
Nach den üblichen zwei Tauchgängen am Vormittag geht es heute ausnahmsweise auch nachmittags nochmals zum Riff hinaus. „Shark Point“ ist angesagt, ein Tauchplatz, wo regelmässig auch Tigerhaie aufkreuzen. Eine einmalige Sache, und trotzdem waren wir hin- und hergerissen, da die Haie angefüttert werden, was wir grundsätzlich nicht befürworten. Doch andere Taucher ermunterten uns und meinten, dieses Spektakel dürfen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen. Zumal wir letzte Woche schon gekniffen haben, liessen wir uns schlussendlich erweichen. Jetzt sitze ich mit einem mulmigen Gefühl an Bord. Schliesslich gehören Tigerhaie zu den grössten und gefährlichsten Haien der Welt. Mit rund sechs Metern sind die Einzelgänger etwa dreimal so lang wie die Riffhaie und bringen locker eine Tonne auf die Waage. Ihre Zähne sind ausserordentlich scharf, manche zum Sägen ausgebildet und ihr Speiseplan präsentiert sich deshalb sehr vielfältig: Andere Haie, Rochen, Seehunde und sogar Meeresschildkröten mitsamt ihren harten Panzern verschwinden in den Bäuchen der Räuber auf Nimmerwiedersehen. Allerdings sind Tigerhaie nicht immer die Jäger, sondern oft auch die Gejagten; der grösste Feind ist der Mensch. Obwohl ich gelesen habe, dass auf den Malediven die Haie selten aggressiv sind und die Gefahr, gebissen zu werden, äusserst gering ist, sehe ich mich gedanklich schon als Fischfutter…
Auch mein Tauchbuddy Roland ist etwas nervös. Als wir am angepeilten Fleck schleunig vom Boot ins Wasser springen, sind auch schon die ersten Haie zur Stelle. Immerhin bloss Riffhaie. Mit JiJi tauchen wir in einer kleinen Gruppe auf rund 15 Meter ab und positionieren uns möglichst nah beieinander an der mit Korallen bewachsenen Steilwand. „Verhaltet euch ruhig. Kein hektisches Flossenschlagen, um nicht die Aufmerksamkeit der Haie zu erregen und deren Jagdtrieb zu wecken“, ermahnte uns die Tauchlehrerin vorab eindringlich. Mein Herz klopft jetzt wie wild und gerät beinahe aus dem Takt, hektisch sauge ich Luft aus dem Atemregler. Fischer haben inzwischen die bestellte Ladung Fischköpfe ins Meer gekippt.
Schon tauchen die ersten Tigerhaie aus der ungeheuren Tiefe auf, angelockt vom Geruch der Fischabfälle. Gierig schnappen sie sich einen Happen vom Riffdach über uns und segeln damit wieder tiefer, hinaus ins weite Blau, um kurz darauf einen nächsten Bissen zu erbeuten. Gebannt verfolgen wir, wie die Meute an Haien ihre kulinarischen Runden dreht. Action pur. Die Tigerhaie sind tatsächlich riesig, ihre charakteristischen Streifen werden ihrem Namen gerecht. Die harmloseren Riffhaie wirken im Vergleich beinahe winzig. Auch Silberspitzenhaie sind mit von der Partie. Ein aufregendes Schauspiel. Roland filmt. Die Haie interessieren sich zum Glück nicht im Geringsten für uns und halten einen Wohlfühlabstand ein. Und als das gesamte Futter verschlungen ist, verschwinden die Tigerhaie wieder in die schummrigen Tiefen des weiten Ozeans. Das wars. Eindrucksvoll. Wir bereuen nichts. Als auch die Riffhaie aus unserem Unterwasserbild verschwinden, machen auch wir uns auf den Weg, weiter dem Korallengarten entlang.
Das Haispektakel verdaut, verläuft der letzte Tauchtag entspannter, aber berauschend. Eine Begegnung mit Büffelkopf-Papageifischen ist nicht alltäglich und ein so grosser Schwarm, wie wir ihn heute sichten, schon gar nicht. Hingerissen bestaunen wir die mächtigen Genossen, die im flachen Wasser in der leichten Strömung hängen. Ich zähle über dreissig Fische – unglaublich. Auch der allerletzte Tauchgang ist überwältigend. „Ein wunderschöner kleiner Flecken, der nur bei Gezeitenwechsel strömungsfrei und gut zu betauchen ist“, klärt uns Tauchprofi Marc auf. „Und heute stimmen die Verhältnisse perfekt mit unserem Zeitplan überein.“ Tatsächlich. Marc hat nicht zu viel versprochen. Angetan gleiten wir über das sonnendurchflutete Korallendickicht und staunen. Fischschwärme zieren das Riff, es wimmelt von Flossen, und der Tauchspot mutet wie ein gigantisches Aquarium an. Immer wieder kommen wir an Anemonen vorbei, wo farbenfrohe Clownfische verspielt herumtanzen. Zum krönenden Abschluss paddelt eine Schildkröte neugierig auf uns zu und leistet uns eine Weile Gesellschaft, bevor sie sich auf den Weg zur Wasseroberfläche macht. Auch wir müssen nach einer Stunde leider wieder hoch und verabschieden uns nach insgesamt 15 Tauchgängen vom bezaubernden Unterwasserreich.
Von Maradhoo nach Feydhoo
An Land verbleiben uns noch zwei Tage. Um die beiden südöstlich von Maradhoo gelegenen Inseln zu erkunden, mieten wir erneut Fahrräder. Ausgeschlafen stärken wir uns als erstes am Frühstücksbuffet im Palm Village. Neben Fladenbrot, Gemüsecurry, Eier und Wassermelonen schaufle ich eine grosse Portion Mashuni auf den Teller. Anfangs mussten sich unsere Gaumen an die Schärfe der klassischen maledivischen Frühstücksspeise gewöhnen, und der Appetit darauf war verhalten, aber jetzt kann ich kaum genug davon kriegen. Mashuni ist ein Gemisch aus gehacktem Thunfisch, geraspelter Kokosnuss, fein geschnittenen Zwiebeln und Chilli, das zusammen mit Roshi, einem dünnen maledivischen Fladenbrot, gegessen wird. Die traditionelle Küche der Malediven ist simpel, da hier wenig gedeiht und vieles teuer importiert werden muss. Doch Kokospalmen und Fisch gibt es in Hülle und Fülle und bilden die Lebensgrundlage der Menschen. Satt durchqueren wir auf dem Velosattel in aller Gemütlichkeit die Nachbarinsel Feydhoo.
Es ist Freitag, muslimischer Sonntag – der heilige Tag. Vormittags ist kaum Verkehr auszumachen. Männer angeln mit Nylonschnüren, die auf Plastikflaschen gerollt sind. Familien picknicken am Strand, Kinder planschen vergnügt im Wasser. Ausser Haus tragen alle einheimischen Frauen ein Kopftuch. Mittags steht das Leben beinahe still, die Läden sind geschlossen und die Gläubigen widmen sich in der Moschee ihren Gebetsritualen. Die Sonne scheint wacker von einem stahlblauen Himmel, der Indische Ozean leuchtet in einem satten Türkis, und uns perlt der Schweiss aus allen Poren. An einer öffentlichen winzigen Palmenbucht sind jetzt alle Liegen frei, verschwitzt entspannen wir im Schatten. Eine Abkühlung im Meer in Badehose oder Bikini ist auf einer sogenannten Einheimischeninsel keine Option, ausser es gibt einen Bikini-Strand, wie sich speziell für Ausländer abgetrennte Strandabschnitte nennen. Ansonsten darf man sich nur auf muslimische Weise ins Wasser stürzen oder auch Sonnenbaden, also mitsamt Kleidern oder einem langen Badekleid. Und darauf haben wir keine Lust…
Weiter südwärts nach Gan
Stattdessen lockt uns eine Erfrischung der anderen Art, und wir radeln weiter südwärts. Auf der nächsten Insel, der Flughafeninsel Gan, befindet sich am Strand das Equator Village, ein einfaches Ferienresort. Hier wurden die ehemaligen Offiziersunterkünfte der britischen Armee zu Hotelzimmern umgebaut. Die Bar verfügt über eine Lizenz zum Alkoholausschank, was hier einzigartig ist. Muslimen ist der Konsum von Alkohol gesetzlich strikt untersagt und auf Einheimischeninseln in der Regel weder in Unterkünften, Restaurants noch Läden erhältlich. Auf den touristischen Hotelinseln hingegen existieren weder Alkoholverbot noch Kleidervorschriften. Allah drückt ein Auge zu, und der Islam ist dort kaum spürbar.
Es war 1972, als es auf den Malediven erstmals Tourismus gab. Die damals sehr einfachen, aus Palmwedel erbauten Hütten im Maledivenstil, zogen Rucksackreisende an, die sich wenig um die Sitten der Einheimischen scherten. Die Regierung heckte deshalb folgendes Konzept aus: Touristische Infrastruktur darf nur auf bisher unbewohnten Inseln entstehen, um damit die islamisch-maledivische Kultur und den traditionellen Lebensstil zu bewahren. Den Touristen wollte man in abgeschotteten Resorts sämtliche Annehmlichkeiten wie Cocktails und freizügiges Baden bieten, ohne die Einheimischen in ihrem Glauben zu verletzen. Um die Einnahmen zu steigern, wurden ausserdem strenge Gesetze erlassen, um den Bau von billigen Unterkünften uninteressant zu machen. Der Tourismus verwandelte sich somit allmählich vom günstigen Traumziel für Backpacker zu einem luxusorientierten Pauschalreiseziel. Über 30 Jahre lang wurde verhindert, dass sich die muslimische Bevölkerung mit ausländischen Feriengästen mischt; die Trennung zwischen heiler Urlaubswelt und maledivischem Alltag wurde streng gehandhabt. Seit 2009 diese strikten Bestimmungen aufgehoben wurden und auf gewissen Einheimischeninseln erste Gästehäuser und kleine Hotels entstanden, ist es wieder möglich, den Inselstaat einigermassen günstig zu besuchen. Und obendrein einen Einblick in das echte Malediven zu erhaschen…
Eine Meeresbrise weht, Palmwedel wispern im Wind. Im angenehmen Schatten mit Blick auf den plätschernden Ozean schlürfen wir in der Strandbar genüsslich unseren ersten alkoholischen Drink. Mit umgerechnet zwölf Franken kostet mein Piña Colada allerdings mehr als das Nachtessen jeweils für uns beide. Bezahlt wird mit maledivischen Rufiyaa, wie die Währung hierzulande heisst, allerdings werden fast überall auch US-Dollar und Kreditkarten akzeptiert. Doch der verhältnismässig hohe Preis zahlt sich aus: Der kühle Drink tut gut und schmeckt köstlich.
Nach dieser wohltuenden Nachmittagspause schwingen wir uns zufrieden auf den Velosattel und machen uns leicht beschwipst auf den Rückweg. Der Sonnenball steht schon tief am Himmel und hüllt die Umgebung stimmungsvoll in ein goldenes Licht. Im Hafen von Maradhoo schaukeln die Fischerboote sanft im schimmernden Wasser, am Kai hält eine zusammengewürfelte Männerrunde einen Schwatz. Der letzte Abstecher führt uns in unser Stammlokal, wo wir noch einmal unsere indischen Lieblingsgerichte schlemmen: Chicken Maharani und Paneer Tikka Masala, zwei scharfe sämige Curries, sowie Paratha, ein noch lauwarmes butteriges Fladenbrot. Unsere Gaumen feiern ein Fest – ein Abschiedsfest.
Fast zwei Wochen sind vergangen. Noch ist unsere Reise aber nicht zu Ende, lediglich die Zeit im Addu Atoll abgelaufen. Unser Aufenthalt auf den Malediven runden wir mit einem Strandresort ab, denn es war uns bewusst, dass wir hier keine Traumstrände finden. Doch hauptsächlich wollten wir auf einer bewohnten Insel ein Stück ursprüngliche Inselwelt hautnah kennenlernen, eintauchen in das alltägliche Leben jenseits der Hotelinseln. Unternehmen kann man hier eher wenig, aber sehen eine ganze Menge, und für maledivische Verhältnisse ist ein Ausflug mit dem Fahrrad etwas Besonderes. Der wahre Schatz des Addu Atolls liegt für uns allerdings klar unter Wasser, in der geheimnisvollen Tiefe, wo man beherzt mit Fischen flirten kann…
Tolle Fotos, Filme und spannend und super geschrieben, bin wieder einmal mitgereist- vielen lieben Dank
Herzlichen Dank für deine lieben Worte, Heidi.
Es freut uns, dass es dir in den Malediven gefallen hat… :-)