Alpstein – ein Flecken Heimat
Der Blick aus dem Fenster verschlägt uns fast die Sprache. Müde reiben wir uns den Schlaf aus den Augen, als wollen wir sicherstellen, nicht zu träumen. Makellos blau der Himmel, liegt uns der Fählensee glatt wie ein Spiegel zu Füssen. Gezackte Felskämme und grasgrüne Berghänge zeichnen sich reizvoll im glänzenden Wasser ab. Überwältigt ziehen wir die frische Morgenluft tief in unsere Lungen ein. Die magische Stimmung haucht uns Energie in den noch etwas steifen Körper, und wir freuen uns unbändig, nach einem stärkenden Frühstück erneut die Wanderschuhe zu schnüren.
Monate im voraus haben wir diese Übernachtung im Berggasthaus Bollenwees festgelegt. Während der Wandersaison an einem Samstag spontan im Alpstein zu übernachten, ist schier aussichtslos. Einen Schlafplatz gesichert, bleibt dafür der Wetterfaktor stets das Ungewisse. Die Prognose für gestern alles andere als verheissungsvoll klingend, besteigen wir bei bedecktem Himmel etwas betrübt den Zug. Doch je tiefer wir ins Appenzellerland rollen, desto lichter die Wolkendecke. Neckisch blinzelt die Sonne in den vollbesetzten Wagon, doch über der Gebirgskette des Alpsteins wabern bedrohlich dunkle Schleier.
Endstation Wasserauen. Kurzerhand ändern wir unsere eigentlichen Pläne. Statt den exponierten Hundstein peilen wir die Marwees an, von wo wir bei einem allfälligen Unwetter rascher unser Nachtlager erreichen könnten. Zu Fuss steigen wir durch das schattige Hüttentobel und weiter bis zur Bogartenlücke hoch, wo seit Jahrtausenden der mächtige Felsblock des Bogartenmannli wie ein Wächter thront. Weiter zieht sich ein schmaler, weiss-blau markierter Zickzackweg steil bergan, der unser Puls in die Höhe schnellen lässt. Die Wiesenterrasse der Marwees erlangt, folgen wir dem satten Graskamm, bis wir ein geeignetes Plätzchen für eine Mittagspause spotten. In luftigen 2000 Höhenmetern schmeckt das Picknick doppelt so gut. Nebst den leckeren Kalorien erquicken wir uns auch am betörenden Rundumblick über die Berge und dem unter uns liegenden Wolkenmeer. Bis jetzt gestaltet sich das Wetter hier oben besser als erwartet, noch verwöhnt uns Sonne pur.
Der Bergweg zieht sich über die weite Alpenwiese hinab zum Widderenalpsattel. Nur vereinzelte Wandervögel kreuzen unsere Wege. Einzig das Blöken der Schafe durchdringt die alpine Stille. Allmählich formieren sich die flockigen Schäfchenwolken zu dichten Schwaden und verfärben sich von schneeweiss zu mausgrau. Am Nordfuss des Hundsteins angekommen, nimmt uns die Bewölkung plötzlich gefangen. Von Nebel umarmt schustern wir weiter talwärts bis zum ersehnten Abzweig, wo wir dem gelben Wegweiser zur Bollenwees folgen.
Nach einem kurzen Anstieg durch den Wald gerät spätnachmittags unser Etappenziel in Sicht. Nach der gutmütigen Ruhe des Tages empfängt uns ein lautes Stimmengewirr. Das Berggasthaus Bollenwees bettet sich auf 1470 Metern leicht erhöht ans Ufer des idyllischen Fählensees. Ausgepumpt holen wir uns auf der überfüllten Terrasse ein Bier und werfen uns einen Steinwurf entfernt in die weiche Wiese. Der Wolkenhimmel erstaunlicherweise wieder aufgelockert, saugen wir die letzten Sonnenstrahlen in uns auf, währenddessen wir die fotogene Aussicht würdigen.
Weit entfernt von Gemütlichkeit geht es später in der vollen Stube zu und her wie in einem Bienenhaus. Doch die legendäre kross gebratene Rösti mit Rahmgeschnetzeltem mundet hervorragend. Mit schwerem Bauch legen wir uns schon bald ins Matratzenlager, das wir mit einer Horde Männer teilen. Als ich im Morgengrauen die störenden Ohropax entferne, wähne ich mich in einem Schweinestall. Wie ein lautstarkes Grunzen erschüttert Schnarchen unser Schlafgemach. Doch das wundervolle Panorama vor dem Fenster stimmt mich versöhnlich, auch staune ich über die Wirksamkeit meiner Ohrstöpsel.
Da sich die Witterung von der Sonnenseite zeigt, reservieren wir euphorisch ein Nest für die kommende Nacht. Die Wanderroute für heute ausgeheckt, schultern wir die Rucksäcke und verabschieden uns von der Bollenwees. Der kurze Anstieg zur Saxerlücke ist bald gemeistert. Von dort schlängelt sich eine nicht ausgeschilderte Wegspur jäh empor. Im Handumdrehen perlt der Schweiss aus allen Poren. Über teils felsige und abschüssige Passagen gelangen wir schnaubend auf einen breiten Rasenrücken, den Roslenfirst.
Hierhin verirrt sich kaum einer. Auf dem gesamten Weg treffen wir nur eine Handvoll Gleichgesinnte. Staunend stiefeln wir durch die urwüchsige Landschaft – zu unserer Linken die bizarren Kreuzberge, zu unserer Rechten das imposante Alpsteingebirge mit Säntis, Hundstein und Co. Am höchsten Punkt des Roslenfirst begrüsst uns auf 2150 Metern ein riesiges Steinmannli mit Gipfelkreuz. Zeit für eine wohlverdiente Rast mit Gipfelschnaps – himmlisch.
Beschwingt strolchen wir weiter über Stock und Stein. Den Roslenfirst in seiner vollen Länge erwandert, geht es leicht hinab zum Zwinglipass auf rund 2000 Metern. Von hier nehmen wir nochmals einen steilen Aufstieg von ungefähr 300 mühevollen Höhenmetern unter die Sohlen. Die stotzigen Kehren haben es in sich und auf dem Schutt komme ich nur ächzend voran, während Roland leichtfüssiger unterwegs ist. Endlich oben angekommen, gönnen wir uns vor dem finalen Abstieg eine Verschnaufpause, im Blickwinkel den wuchtigen Altmann. Konzentriert hangeln wir uns runter bis zum Rotsteinpass, ist die schräg abfallende Fliswand mit vielen Metallstufen und Seilen gespickt. Mir ist etwas mulmig zumute und meine Beine zittern leicht.
Geschafft. Der Rotsteinpass liegt auf 2120 Metern Höhe zwischen dem Altmann und dem Säntis, und markiert den Übergang vom Appenzellerland ins Toggenburg. Erleichtert wieder festen Boden unter den Füssen zu spüren, steuern wir die Berghütte an. Ausgelaugt schlüpfen wir umgehend aus den festen Schuhen. Eine Wohltat. Vor dem Haus tanken wir genüsslich die wärmende Abendsonne, bevor drinnen das Nachtessen serviert wird. Weitere Gäste sind mit von der Partie, doch die Auslastung ist an diesem Sonntagabend eher bescheiden. Kurz vor Sonnenuntergang sind überraschenderweise alle Wolken vom Himmel gefegt. Stimmungsvoll bricht die Dämmerung über die harmonische Bergwelt herein.
Nach einer friedvollen Nachtruhe im fast leeren Massenlager läutet der nächste Morgen einen Prachtstag ein. Den Altmannsattel im Visier, lassen wir den grossen Rucksack für diesen Abstecher in der Rotsteinpasshütte zurück. Noch einmal kraxeln wir dort hinauf – und später wieder hinunter – wo wir gestern hergekommen sind, und stehen eine knappe Stunde später auf dem Altmannsattel.
Halb zehn. Zwar keine Menschenseele in Sicht, doch allein sind wir nicht. Über zwanzig Steinböcke halten sich am Fusse des Altmann auf knapp 2400 Metern auf. Einige Artgenossen lagern frech auf dem Zugangsweg, derweil andere sich im Gras sonnen oder im Steilhang stolzieren. Zwei Exemplare messen ihre Kräfte und schlagen sich gegenseitig die riesigen Hörner ein. Verblüffend, dass sich die mächtigen Hornträger im unwegsamen losen Geröll letztendlich stets halten können, auch wenn sie zwischendurch etwas ausrutschen.
Fasziniert beobachten wir das gehörnte Spektakel vom gegenüberliegenden Hang. Die Steinböcke zeigen keinerlei Scheu, anscheinend halten wir einen genügenden Sicherheitsabstand ein. Doch eigentlich sind wir gar nicht wegen der beeindruckenden Steinbockkolonie hier, sondern weil Roland mit mir den Altmann bezwingen möchte. Jetzt wo ich den zweithöchsten Gipfel des Alpsteins jedoch aus nächster Nähe betrachte, bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob ich das auch will, oder kann. Mein Liebster mutet mir manchmal etwas gar viel zu, und ich bin weder klettergewandt, noch bereiten mir ausgesetzte Schlüsselstellen Spass.
Auch Roland zögert, unter anderem den wilden Tieren wegen. Wir begraben einstimmig die Idee des schwierigen Aufstiegs und geniessen stattdessen die einmalige Fernsicht, die bis zu den Churfirsten und tief ins Herzen der Schweizer Bergwelt reicht. Bald ist es mit dem bedingungslosen Frieden vorbei. Die ersten Mutigen schreiten zur Tat, scheuen unbarmherzig die am Zugang dösenden Steinböcke auf. Gewandt – oder gewagt – bezwingen sie teilweise auf allen Vieren die fast senkrecht wirkende Felswand. Nun weiss ich haargenau, dass das Unterfangen nichts für mich ist. Was wir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wissen: Später umschwirrt ein Rettungshelikopter den kühnen Gipfel…
Wieder zurück in der Rotsteinpasshütte holen wir unser zurückgelassenes Gepäckstück ab und machen uns auf zum berühmt berüchtigten Lisengrat. Schwindelfreiheit und Trittsicherheit sind von Vorteil, denn stellenweise geht es beinahe in bodenlose Tiefe. Mit künstlichen Tritten und Drahtseilen entschärft, ist der schmale Felsweg jedoch bestens gesichert und für uns problemlos zu bewältigen. Mit drei Wandertagen in den Knochen, spüre ich aber mittlerweile jeden Muskel. Auf dem Chalbersäntis, dem breiten Rücken unterhalb des Säntis, gönnen wir uns eine ausgedehnte Mittagsrast. Noch immer zaubern wir Leckereien aus unseren Rucksäcken und brauchen uns somit nicht in das Getümmel eines Bergrestaurants zu stürzen.
Später erreichen wir in einer allerletzten Etappe das Gipfelziel. Wandernd erobern wir den höchsten Berg des Alpsteins mit seiner beträchtlichen Höhe von 2502 Metern. Dem alpinen Hochgebirge den Rücken kehrend, schweifen unsere Augen über die sanften Hügel des Appenzellerlandes bis hin zum blassblauen Bodensee in der Ferne. Über die Nordflanke des Säntis schweben wir mit der Gondel glücklich talwärts, schwerelos der Schwägalp und dem Ende unseres Wanderabenteuers entgegen.
Auch wenn der Alpstein quasi vor unserer Haustüre liegt und wir ihn schon von Kindesbeinen an kennen, lässt er unser Wanderherz stets aufs Neue höher schlagen. Obschon an sonnigen Wochenenden vielerorts heillos überlaufen, finden sich noch immer weniger begangene Routen, sofern man auf Seilbahnen und Beizen verzichtet. Der Alpstein – ein unwiderstehlicher Flecken Heimat…
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