Am Roten Meer bei El Quseir
Inzwischen ist auch meine Seele angekommen, am Roten Meer in Ägypten. Entspannt sitzen wir auf unserer Terrasse und spähen gedankenverloren durch die Palmen auf das Wasser: blau bis zum Horizont. Die Palmwedel wispern im Wind, das Meer rauscht. Die Wellen brechen nicht am Strand, sondern weiter draussen, dort, wo weisse Schaumkronen die verborgene Riffkante markieren.Tief in mir breitet sich ein Glücksgefühl aus. Viel zu früh senkt sich die Dämmerung über die berauschende Kulisse. Ein leichtes Frösteln überzieht meine Haut, während sich das Meer allmählich schwarz verfärbt.
Die Brise ist frisch, auch in Ägypten zieht im November langsam der Winter ein. Zwar knallt die afrikanische Sonne tagsüber heiss vom Himmel, doch in den letzten Tagen raubten ihr Wolkenschlieren an Kraft und zudem wehte fast ständig ein Wind. Der Sonnenuntergang geht schon nachmittags um fünf über die Bühne, doch verglichen mit der Heimat, haben wir hier ein wertvolles Stück Sommer gefunden. Es tut gut, endlich wieder am Meer zu sein, in Salzwasser einzutauchen und Sand zwischen den Zehen zu spüren. Unterdessen ist es stockdunkel geworden und an der Zeit, die kurzen Klamotten gegen lange zu tauschen.
Seit unserer Ankunft am Roten Meer sind schon zwei Tage verstrichen. Wie haben wir die Planung und Anreise in Zeiten von Corona erlebt? Erstens waren wir dankbar, durchkreuzten keinerlei neuen Massnahmen unsere kurzfristig gebuchten Tauchferien. Dann machte sich abermals Erleichterung breit, als am Vorabend der Abreise endlich das heiss ersehnte Resultat des vorgeschriebenen Covid-Tests ins Haus flatterte – und negativ ausfiel. Man weiss schliesslich nie, ob allenfalls das böse Virus still in einem schlummert. Ohne Gewissheit die Koffer zu packen, war ein eigenartiges Gefühl. Auch dämpften im Vorfeld die steigenden Fallzahlen und die damit einhergehende unsichere Lage unsere Vorfreude. Denn nur eines war sicher: jederzeit können sich die Corona-Spielregeln ändern.
Unsere erste Auslandsreise in diesem Jahr startete also ungewohnt. Die Fliegerei wiederum war fast wie immer, sieht man von der strikten Maskenpflicht ab. Beim Check-in und bei der Gepäckdurchleuchtung stauten sich Reisehungrige, ansonsten begrüsste uns ein leerer Flughafen, die Läden waren mehrheitlich dicht. Dafür fanden wir uns in einer proppenvollen Maschine wieder: Maske an Maske. Über den Wolken düsten wir Richtung Süden, unter uns ein Nebelmeer, wo hohe Schweizer Berggipfel heraus guckten – sonnenhungrig wie wir. Die wohlbekannten Churfirsten waren auch aus der Vogelperspektive unverkennbar.
Da wir uns mit einer Gesichtsmaske noch immer schwer tun, jubelten wir innerlich, als nach vier Flugstunden nordafrikanisches Land in Sicht war. Unter uns breitete sich türkisfarbenes Wasser aus. Das Rote Meer ist eine 2000 Kilometer lange Meerenge zwischen dem Nordosten von Afrika und der Arabischen Halbinsel. Bald ging das Türkisblau in eine wüstenhafte Einöde über, am Horizont waren Silhouetten von Gebirgszügen auszumachen. Ägypten misst eine Million Quadratkilometer und ist somit rund dreimal so gross wie Deutschland. Eine schier endlose Wüste überzieht 96 Prozent der Landesfläche – in der freien Natur wirft meistens nur der eigene Körper Schatten.
Am Flughafen von Marsa Alam parkte kein anderes Flugzeug. Das Einreiseprozedere ging flott und unkompliziert, ein Visum braucht es ausnahmsweise nicht. Die Nachmittagssonne stand schon tief und warf ein mildes Licht über die Wüstenszenerie, als wir nordwärts über die kaum befahrene Strasse flitzten. Auch die sonnenverbrannte Gegend wirkte ausgestorben, gäbe es nicht mancherorts ein paar Hotelanlagen. „Wahrscheinlich spielt sich mehr Leben unter Wasser ab“, spekulierte ich, und freute mich auf die verheissungsvolle Unterwasserwelt. Hin und wieder bremste der Fahrer urplötzlich ab, Schäden löchern gefahrvoll das Teerband.
Kurz vor dem Eindunkeln erreichten wir eine Stunde später heil das Hotel in der Nähe von El Quseir, der ältesten Stadt am Roten Meer. Der Türsteher presste uns ein Fieberthermometer an die Stirn – ein Glück, gab das Messgerät grünes Licht. Erst dann durften wir Einchecken und ein Angestellter verfrachtete uns in eines der vielen Zimmer. Eher an familiäre Tauchresorts gewohnt, fragten wir uns, wie wohl wir uns in einer so grossen Ferienanlage fühlen werden. Und wie wird sich der Aufenthalt in der verrückten Zeit der Pandemie gestalten? Noch wussten wir nicht, dass uns das Ritual des Fiebermessens tagtäglich mehrmals blüht.
Das Mövenpick El Quseir ist eine klassische Hotelanlage mit allem Drum und Dran, und breitet sich auf einem Felsplateau in einer Bucht aus. Ein Badestrand lädt zum Planschen ein und Liegestühle im Sand zum Entschleunigen. Die Anlage mit 250 Zimmern ist weitläufig und grosszügig gestaltet. Hohe, schlanke Palmen recken in den Himmel und begrünte Plätze mit Agaven, Kakteen und bunten Blüten schaffen eine behagliche Atmosphäre. Das Ganze erinnert an ein Dorf. Die sandfarbenen Reihenhäuschen und Bungalows aus Stein sind im traditionell nubischen Stil erbaut und scheinen mit der natürlichen Umgebung zwischen Sandsteingebirge und Küstenlinie zu verschmelzen.
Ein Teil der beschaulichen Ferienanlage ist wegen Corona zur Zeit geschlossen und dennoch wirkt der bewohnte Teil des „Dorfes“ ziemlich verwaist. Uns gefällts, finden wir auf der Terrasse stets gutmütige Ruhe. „Die Auslastung beträgt nur 23 Prozent“, verrät der Rezeptionist auf unsere Nachfrage stirnrunzelnd. „Ansonsten sind wir zu dieser Jahreszeit jeweils nahezu ausgebucht.“ Im Hauptrestaurant schlemmen morgens und abends viele Gäste, was uns keine so geringe Belegung vermuten liess. Hier zu residieren, wenn das Hotel voll wäre, ist für uns eine Horrorvorstellung.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort, dank Corona. Zur Sicherheit der Urlauber tragen sämtliche Angestellte eine Gesichtsmaske und am reichhaltigen Buffet schöpft uns das Personal. Einmal landet zu viel auf dem Teller, einmal das Falsche, das Küchenteam spricht kaum Englisch. Aber was solls, wir gewöhnen uns daran. Hauptsache für die Gäste ist das Maskieren freiwillig – die meisten tun es nicht. Zweimal die Woche darf man im bedienten Lokal unmittelbar am Meer auf der Terrasse speisen, was eine gelungene Abwechslung ist, verfeinert mit einer Prise Romantik.
Englisch kommt vorwiegend den Angestellten über die Lippen, hocken wir in einem Haufen Schweizer, die geschätzt 90 Prozent aller ausmachen. Das Hotel ist seit eh und je bei Deutschsprechenden beliebt, aber da jetzt das Flugangebot sehr eingeschränkt ist, hören wir dank Edelweiss vorwiegend vertrautes Schweizerdeutsch. Aber es stört uns nicht. Exotik gibt es zu Hauf: von Meerblick bis zu Wüstenatmosphäre.
Zehn Minuten sind wir schon unterwegs, als wir bei der Tauchbasis ankommen. Der Weg zum Tor der Unterwasserwelt ist gleichzeitig ein gemütlicher Spaziergang am Meer. Unser Zimmer liegt am anderen Ende und gleichzeitig auch abseits des wuseligen „Dorfzentrums“ mit Restaurant, Bar und Pool. Die Tauchschule wirbt mit einem artenreichen Hausriff der Extraklasse – wir sind gespannt. Nach dem Erledigen des Papierkrams steht der obligatorische Check-Dive mit einem Tauchguide an. Ein langer Holzsteg führt über das Riffdach hinaus aufs Meer, wo am Ende auf einer Plattform Tauchflaschen und Blei griffbereit stehen. Zusammen mit Islam hüpfen wir aufgeregt ins Wasser, und einmal abgetaucht, prüft der sympathische junge Mann unsere taucherischen Fertigkeiten. Den Test erfolgreich bestanden, steht uns das vielseitige Angebot offen: unlimitiertes Tauchen am Hausriff, Bootsausflüge und Tauchgänge vom Land, jeweils geführt oder unbegleitet. Die ersten Tage lockt uns selbständiges Tauchen vor der Haustüre. Das vorgelagerte Korallenriff ist so gross, dass es verschiedene Tauchmöglichkeiten bietet.
Meistens frischt der Wind erst nachmittags auf. Für einmal legen wir uns deshalb schon frühmorgens an den Strand und verschieben das Tauchen auf später. Die Sonne wärmt angenehm und das Wasser ist nahezu glatt. Das sanfte Plätschern wird gelegentlich von brummenden Lastwagen verschluckt. Gleich hinter dem Strand führt leider eine Strasse vorbei – glücklicherweise halten sich Verkehr und Hupen in Grenzen.
Nach einem späten Frühstück und einem ausgiebigen Tauchgang wirft das Licht des Nachmittags bereits wieder lange Schatten. Das Abstreifen des Neoprenanzugs verschafft uns im Luftzug umgehend eine Gänsehaut. Ausgekühlt wärmen wir uns an einer heissen Tasse Tee, bevor wir uns anlässlich des ersten wolkenfreien Tages einen Sundowner gönnen. Kaum mit einem Drink angestossen, rutscht der rot glühende Sonnenball hinter die Palmen. Noch habe ich mich nicht an die kurzen Nachmittage gewöhnt und würde die Uhr am liebsten eine Stunde vorstellen, zumal es morgens schon um halb sechs dämmert.
Nachdem wir das Hausriff mehrmals vom Steg aus erkundet haben, bringt uns heute ein Schlauchboot weiter hinaus, damit wir zur Anlegestelle zurück tauchen können. Wir lassen uns rückwärts in die Wellen purzeln und verabschieden uns in die geheimnisvolle Unterwasserwelt. Zischend entweicht die Luft unserer Tarierweste und langsam sinken wir im nassen Element, geradewegs auf das Korallenriff zu. Auf zwanzig Metern Tiefe ist es still und von der aufgebrachten Wasseroberfläche ist nichts mehr zu spüren. Schwerelos gleiten wir durch das salzige Nass, das wider Erwarten noch angenehme 27 Grad misst – ungefähr ebenso so viel, wie die Luft tagsüber. Kommt der Kühleffekt des Windes hinzu, fühlt es sich im Wasser wohliger an.
Der Streifzug dort unten offenbart uns eine betörende Wunderwelt. Am schräg abfallenden Riff türmen sich facettenreiche Korallenblöcke auf, reizvoll bewachsen mit Hartkorallen. Mancherorts zieren auch Weichkorallen das Bild, doch die wahren Stars sind die Fische, die dem Riff Leben einhauchen. Immer wieder fallen uns Blaupunktrochen auf. Sind die blau gepunkteten Kerle mit ihrem giftigen Stachel nicht im Sand verbuddelt, sind sie leicht zu spotten.
Nicht zu übersehen sind auch die silbergrauen Flötenfische, die meist starr wie ein Lineal im Wasser schweben. Die bis zu über einen Meter langen dünnen Geschöpfe sind meistens in Gruppen anzutreffen.
Ein Blickfang stellen die Wimpelfische mit ihrer auffällig langen Rückenflosse dar. Drohen die gestreiften Fische, richten sie ihre Wimpel auf und drücken sie bei einem gegenseitigen Kampf aneinander. Uns sind die zutraulichen Genossen aber gut gesinnt und posieren sogar gelassen vor Rolands Kamera.
Knallgelbe Falterfische patrouillieren fast immer paarweise am Riff und sind ihrem Liebsten meistens ein Leben lang treu. Für uns sind die süssen Farbtupfer ein Augenschmaus. Gelegentlich ziehen auch Fischschwärme unsere Aufmerksamkeit auf sich, anderen Tauchern begegnen wir allerdings kaum. Es fühlt sich wunderbar an, zu zweit im eigenen Rhythmus zu tauchen, zeitlich ungebunden, je nach Herzenslust. Wo ist das schon möglich?
Beinahe ist eine Woche um. Die Tage vergehen rasch – viel zu rasch. Obwohl wir jeweils nur einem Tauchgang frönen und uns nachher am Strand erholen, ist es schon wieder Abend, und wir sind auf dem Heimweg. Unser Schlafgemach liegt leicht erhöht über dem Meer, etwas von der Küste zurückversetzt. Wir lieben den Ausblick von der Terrasse, die harmonische Stimmung – Meeresrauschen inklusive. Aber manchmal auch lästige Mücken. Doch die winzigen Plagegeister halten uns nicht davon ab, nach dem Nachtessen den Abend hier gemütlich ausklingen zu lassen. Die Palmenoase in unserem Quartier ist nachts sanft beleuchtet und es fällt uns leicht, die Seele baumeln zu lassen.
Der Kapitän jagt das Schlauboot über das Wasser. Eine Viertelstunde später sind wir am Ziel: ein Tauchplatz, südlich des Hotels. Ein ortskundiger Guide sorgt für unser Taucherwohl, mit von der Partie ein junges Schweizerpaar. Nach vierzig Minuten ist der Tauchgang beendet – zu zweit sind wir häufig doppelt so lange auf Pirsch. Doch die Pressluftflaschen der beiden sind bereits leer und der Tauchführer zitiert auch uns zurück aufs Boot. Schade, aber immerhin haben wir zwischen den im Sand verteilten Korallenblöcken aufregende Kreaturen gesichtet. Die in Gemütsruhe paddelnde Schildkröte nahm zwar schleunigst Reissaus und verschwand im weiten Blau. Dafür bot uns eine freischwimmende Riesenmuräne eine Show; ihr aalartiger Körper ist über zwei Meter lang. Die schaurigen Nachtjäger gucken tagsüber meistens nur mit dem Kopf aus einem Versteck heraus.
Unterdessen hat sich das Meer in ein Wellenbad verwandelt. Die Rückfahrt ist ungemütlich. Das Boot wankt bedrohlich und wir klammern uns fest, um nicht versehentlich von Bord zu kippen. Tapfer pflügt sich das kleine Gefährt durch die grossen Wogen, die unaufhörlich heran rollen und mit Getöse an den Gummi klatschen.
Auch am nächsten Tag tanzen weisse Schaumkronen über das tiefblaue Wasser und Wellen donnern an den Strand. Wir suchen uns ein möglichst windgeschütztes Plätzchen und hoffen, dass sich Neptun bald beruhigt. Doch der Meeresgott lässt nicht mit sich verhandeln; immerhin übertönt das grollende Meer den Lastwagenlärm. Später wagen wir es trotzdem. Mittags ist in der Tauchbasis häufig keine Menschenseele anzutreffen und wir haben genügend Platz, uns in Neopren zu zwängen und die Tauchutensilien auszubreiten. Absichtlich wählen wir jeweils Zeitspannen, wo keine geführten Tauchgänge stattfinden und ein Gewusel verursachen. Diese Tage sind „nur“ etwa vierzig Taucher eingeschrieben, und wir wollen gar nicht wissen, wie es sich anfühlt, wenn das Resort ausgebucht ist.
Flossen und Taucherbrille in der Hand, bummeln wir erwartungsvoll zum Steg, buckeln eine Flasche, und los gehts. Die Wellen richten heute auch unter Wasser Schaden an, die Sicht ist stark beeinträchtigt. Es ist wie im Nebel: Sind wir nah genug am Geschehen, erkennen wir, was sich in nächster Nähe abspielt. Unser Taucherherz schlägt höher, als wir einen Krokodilfisch entlarven, der wie erstarrt unter einer Koralle ruht. Diese urtümlichen Kreaturen tarnen sich hervorragend und bewegen sich meistens keinen Millimeter.
Was zappelt denn da im Wasser? Ein winziger Zitterrochen. Kopf und Körper sind zu einer ovalen Körperscheibe zusammengewachsen und seine schlagende Flosse erinnert uns an einen rotierenden Propeller. Roland versucht, die süsse Kreatur mit der Kamera zu verewigen, bevor sie davon schwirrt.
Das frühe Zubettgehen beschert uns ein frühes Aufwachen – ein Rhythmus, der sich inzwischen eingependelt hat. Für den Sonnenaufgang schwingen wir uns heute gar vor sechs aus den Federn. Noch ist es kühl und nur ein zartrosa Streifen am Horizont deutet daraufhin, dass die Sonne demnächst aufgeht. Punkt sechs steigt der rot glühende Ball aus dem Wasser und wirft sein warmes Licht über die Morgendämmerung. Der felsige Küstenstreifen ist mit Korallenschrott und Muschelfragmenten übersät und leuchtet jetzt rötlich. Wir saugen den magischen Moment in uns auf, denn bald ist der Zauber wieder vorüber und die Wintersonne strahlt in voller Kraft.
Sämtliches Tauchmaterial im Pick-up verstaut, brausen wir mit unserer kleinen Tauchgruppe auf der schnurgeraden Strasse nordwärts. Nach einer Viertelstunde biegen wir vom Asphalt ab und holpern im Nirgendwo der Küste entgegen. Inmitten des riesigen Sandkastens machen wir uns zu fünft tauchfertig. Das Korallenriff reicht weit in den Strandbereich hinein und der Einstieg im seichten Wasser erfolgt durch ein Labyrinth aus Schluchten. „Sollte es Strömung haben, haltet euch am montierten Seil fest“, betont der Guide nachdrücklich. Mariks Gesicht ist nach wie vor halbwegs versteckt, erst später tauscht er die Hygienemaske gegen die Tauchermaske.
Das Wasser in ein paar Metern Tiefe ist unerwartet zahm. Mühelos gelangen wir durch einen Kanal hinaus ins offene Meer, das über uns tobt. Immer tiefer tauchen wir ein in die andere Sphäre, weit weg von Hektik. Marik führt uns zielsicher durch das gigantische Aquarium und spürt in den Riffwänden bestens getarnte Drachenköpfe auf, die eins sind mit dem Riff. Unglaublich, wir sind beeindruckt. Die skurrilen Geschöpfe wären uns wahrscheinlich nicht aufgefallen.
In zwanzig Metern Tiefe ist es düster. Je höher wir aufsteigen, desto mehr Sonnenlicht durchflutet das prächtige Riff. Erst im oberen Bereich kommen alle Farben zur Geltung, die Korallenwelt leuchtet malerisch in Hellgrün und Lila. Das Tüpfchen auf dem i sind die orangefarbenen Fischlein, die sich über den Korallenstöcken tummeln, und deren Flossen nervös im Wasser strampeln.
Hingerissen tauchen wir auf und schleppen unser Tauchgewicht zum Auto zurück. „Fantastisch, wie du die mit dem Riff verwachsenen Drachenköpfe aufgespürt hast“, lobe ich Marik für seinen Kennerblick. Der Ägypter strahlt und sein Gesicht spricht Bände. Eben wird mir so richtig bewusst, dass wir die Angestellten ansonsten nie richtig zu Gesicht bekommen, und bei der Begegnung mit einer maskierten Person immer etwas fehlt, nämlich die aussagekräftige Mimik.
Schon in aller Morgenfrühe verteilen sich unzählige Sahnehäubchen übers Wasser und muten wie ein wildes Schaumbad an. Wellen überschlagen sich laut und bäumen sich zu hohen Spritzern auf. Beim Frühstück verstärkt sich der launige Wind und zerzaust übermütig die Palmwedel. Wenn ich zum wütenden Meer hin schaue, fühle ich mich fast wie auf einem wiegenden Kreuzfahrtschiff, obschon sich in der Tat nur das Wasser bewegt. Ist Tauchen heute eine gute Idee? Am Strand ist die rote Fahne gehisst, die stramm flattert. „Tauchen ist momentan nicht angeraten“, empfängt uns Tanja, die Tauchbasenleiterin, und nimmt uns die Entscheidung ab. Der Tag verfliegt im Liegestuhl. Im Windschatten vertiefen wir uns in ein Buch und beobachten hin und wieder das stürmische Geschehen.
Am nächsten Morgen pfeift der Wind noch immer, flaut dann aber langsam ab. Mittags stürzen wir uns wieder in die Fluten und sind von der Sicht unter Wasser sogar überrascht. Und dann ist es soweit: der allerletzte Tauchgang steht an. Noch einmal durchforsten wir das Riff und staunen. Auf und ab tänzelnde Clownfische lassen uns auch nach zig Tauchgängen stets aufs Neue innehalten. Die kleinen, farbenfrohen Barsche leben in Symbiose mit den Anemonen, wo sie sich meist zu zweit vergnügen.
Auch Kugelfische treffen wir immer wieder an. Zu einer Kugel pumpen sie ihre gefleckten Körper nur auf, wenn sie Gefahr wittern. Oftmals liegen sie faul im Riff herum und hinterlassen einen friedfertigen Eindruck. Ganz anders der silbern glänzende Barrakuda, der im seichten Wasser unseren Weg kreuzt. Sein Maul steht offen und der Jäger stellt seine scharfen Zähne zur Schau. Zum Glück fallen Taucher nicht in sein Beuteschema.
Der letzte Tag verabschiedet sich mit einem flammenden Wolkenmeer über den fernen Bergketten. Die zwei Wochen am Roten Meer taten unheimlich gut – über wie unter Wasser. Wir sind happy, konnten wir trotz Corona in exotische Gefilde schweifen, wenn auch nur kurz und nicht wie ursprünglich geplant. Auch war es eine Wohltat, uns für einmal nicht gross mit der Pandemie befassen zu müssen… Vor dem Nachtessen erfragen wir an der Rezeption die morgige Abholzeit. „Und jetzt denkt nicht mehr an die Abreise, sondern geniesst euren letzten Abend“, gluckst der Angestellte hinter der Maske warmherzig und zaubert uns ein Lächeln ins Gesicht.
Genialer Bericht! Tolle Filme und frische Kommentare. Jörg
Herzlichen Dank, Jörg. Es freut uns, wenn dir der Bericht gefällt.
Liebe Grüsse Christine & Roland