Baustelle Christchurch
Vibrierende Stösse aus der Unterwelt, die grollende Erde wackelte wie Pudding. Strassen bewegten sich gespenstisch. Teer platzte auf, Schlamm und Wasser sprudelte aus klaffenden Rissen heraus. Scheppern und Klirren ergriffen die Stadt. Gebäude krachten wie Kartenhäuser zusammen, begruben Hunderte unter sich. Häuserfundamente versanken in verflüssigter Erde. Düstere Staubwolken umhüllten das unüberschaubare Chaos. Innert Sekunden Verwüstung pur, wie nach einem Bombenanschlag. Ein Erdbeben rüttelte das Leben der Menschen kräftig durch. Zurück blieben Schutt und Trümmer, Schrecken und Verzweiflung. Nichts ist mehr normal…
Sechs Jahre später. Die Abgabe unseres Campervans steht kurz bevor. Auf der Fahrt nach Christchurch auf einem Rastplatz unsere Siebensachen in die Rucksäcke gestopft, hieven wir das Gepäck nun aus unserem lieb gewonnenen Daheim. Wir händigen der zerstreut wirkenden Dame der Vermietstation den Schlüssel aus – bereits zum dritten Mal innert Kürze begrüsst sie uns in Eile und bittet um Geduld. Eine Viertelstunde später gibt sie grünes Licht: „All good!“ Schon finden wir uns auf der Strasse wieder, jetzt autolos. Innert Minuten steht das bestellte Taxi auf der Matte und bringt uns zum gebuchten Motel in der Innenstadt. Seit dem Erdbeben mangelt es an Unterkünften, deshalb haben wir uns im voraus ein Zimmer reserviert.
Zwar bedauerlich nimmt das Camperleben im reizvollen Neuseeland ein Ende, doch freuen wir uns nach zwei Monaten auf engem Raum auf Entfaltungsmöglichkeiten. Das Zimmer ist sogar grösser als angenommen und ideal, um unser Hab und Gut auszumisten. Dank einer Kochnische mit Kühlschrank und Mikrowelle können wir noch unsere angebrauchten Lebensmittel verwerten. Am meisten schätzen wir jedoch das warme, weiche Bett und das eigene Klo gleich ums Eck. Uns nachts nicht mehr ausgekühlt mit Thermowäsche und dicken Socken in den Schlafsack zu kuscheln und am nächsten Morgen mit Verlust von zehn Grad aufzuwachen, ist die reinste Wohltat.
Ausgeschlafen brechen wir am nächsten Vormittag in die Innenstadt auf. Beim Anblick des eigenartig niedrigen, bröckelnden Anblicks beschleicht uns ein beklemmendes Gefühl. Wie mag es hier früher ausgesehen haben? Wie geht es den Menschen, die einst hier lebten oder arbeiteten? Wo früher bestimmt Häuser standen, gleitet unser Blick nun über Zerstörung und ganz viel Nichts, welches jetzt vielerorts provisorisch für Parkplätze genutzt wird. Das einstige Stadtbild lässt sich nur erahnen – das vergangene Erdbeben ist nicht zu verbergen… Völlig unerwartet zuckte eines Tages im September 2010 im Morgengrauen die Erde. Die Erschütterungen mit einer Stärke von 7.1 kamen völlig unerwartet. Ein paar Schornsteine stürzten ein, grosse Schäden und Tote waren glücklicherweise keine zu verzeichnen. Doch beim nächsten Beben, sah die Sache ganz anders aus.
Die Stadt pulsierte, als sich am 22. Februar 2011 um die Mittagszeit die Erde erneut aufbäumte. Die verheerenden Stösse mit einer Stärke von 6.3 auf der Richterskala zerstört fast die ganze Innenstadt, inklusive östliche Vororte. Die Intensität war stärker als beim vorangegangenen Erdbeben – das Epizentrum näher an der Stadt, das Hypozentrum mit nur sechs Kilometern Tiefe dichter unter der Oberfläche. 24 traumatische Sekunden, ein erstes Nachbeben zwei Minuten später. Ausnahmezustand, Ströme von Menschen fliehen staubverhüllt aus der Stadt. In den folgenden Monaten folgten Hunderte Nachbeben. Um beschädigte Gebäude abzureissen und die Strassen wieder benutzbar zu machen, wurde eine Sperrzone eingerichtet, die beinahe das gesamte Zentrum umfasste. Es dauerte länger als zwei Jahre, bis die Innenstadt für die Öffentlichkeit wieder zugänglich war.
An einer tristen Strassenecke wurde ein eindrückliches Denkmal für die geforderten Todesopfer errichtet. Wir halten einen Moment inne, sind zutiefst ergriffen. „185 Chairs“ – 185 leere Stühle gedenken den Verstorbenen. Staatsangehörige aus 20 Ländern, vor allem Japaner und Chinesen, darunter viele internationale Sprachstudenten. Den weissen Stühlen verschiedenster Grösse und Art – von harten Holzstühlen über bequeme Sessel, von Rollstuhl bis Babytrage – wird zu jedem Jahrestag ein neuer Anstrich verliehen. Das ungestüme Beben brachte nebst Verwüstung und Tod auch unzählige Tränen und rund 6000 Verletzte. Nachdenklich gestimmt wird uns bewusst, dass die Erde hier – oder anderswo – jederzeit rumoren könnte. Wie gehen die Betroffenen mit dieser unterschwelligen Angst wohl um?
Aufgewühlt spazieren wir weiter. Baulärm dringt in unsere Ohren, die Innenstadt gleicht einer riesigen Baustelle. Baukräne und grell orange Kegel dominieren das Bild, ständig sind wir wegen Absperrungen gezwungen, die Strassenseite zu wechseln. Der Wiederaufbau ist in vollem Gange, doch geht langsam voran. Mittlerweile ist aber auch schon einiges restauriert oder wieder aufgebaut, neue Gebäude schiessen aus dem Boden. Überall im Zentrum stolpern wir über den gestalterischen Erfindungsgeist und witzige Lückenbüsser. Mauern wurden mit Malereien kunstvoll verziert, Brachflächen in fantasievolle Gärten verwandelt. An vielen Ecken fallen bunt gestrichene Schiffscontainer ins Auge. Sie zeugen vom ersten Versuch, Geschäfte und Handel ins Zentrum zurückzubringen.
Auf dem Cathedral Square schlägt seit jeher das Herz von Christchurch, doch seine einstige Betriebsamkeit hat er noch nicht wiedererlangt. Viele Bauten, die vorher den grossen Platz säumten, sind heute verschwunden. Das Schicksal der neugotischen ChristChurch Cathedral ist noch ungewiss. Das Wahrzeichen der Stadt wurde erheblich in Mitleidenschaft gezogen – der 63 Meter hohe Kirchturm stürzte zur Hälfte ein und beschädigte den restlichen Gottesbau. Die Anglikanische Kirche entschied, dass die Reparaturkosten nicht zu stemmen seien und sprach sich für einen Neubau aus. Der restliche Turm war bereits abgerissen, als es Denkmalschützern gelangt, den weiteren Abbruch zu stoppen.
Nach ausgiebigen Streifzügen durch die im Schachbrettmuster angelegte Innenstadt besuchen wir „Quake City“, eine Art Erdbebenmuseum. Ansonsten keine grossen Museenfans, machen wir eine Ausnahme. Die Ausstellung mit Fakten und Berichten, untermalt mit zahlreichen Fotos, vermittelt unverblümt Einblick in Christchurchs düsterste Stunden. Ein Erdbeben mit einer Stärke um 7.0 passiere durchschnittlich alle zehn Jahre irgendwo in Neuseeland. Betroffene schildern offen, wie sie den schwarzen Moment erlebten, geben der Katastrophe ein Gesicht. Jeder erzählt seine eigene Geschichte, keine ist gleich wie die andere, sie alle erlebten das einschneidende Zittern auf ihre Art und Weise. Die Menschen arrangieren sich mit der neuen Normalität, doch es gibt ein Vorher und ein Nachher. Bewegend, im wahrsten Sinne des Wortes…
Die Wetterprognose tönt verheissungsvoll, die Betonung auf der zweiten Silbe. Bei stahlblauem Himmel kutschiert uns ein Stadtbus an den Fusse der Port Hills. Von dort schwebt eine Gondola in die Lüfte, doch wir gehen zu Fuss. Der Bridle Walk klettert steil bergan, führt auf den 450 Meter hohen Bergkamm. Über diesen historischen Saumpfad gelangten im 19. Jahrhundert europäische Einwanderer beschwerlich mitsamt Hab und Gut, gestrandet im Hafen Lyttelton, der auf der anderen Seite der Port Hills liegt. Dank eines Strassentunnels wandert man hier heute nur noch zum Sport oder Spass. Kein Windhauch streift unsere roten Köpfe, die brütende Sonne lässt uns schmoren – ganz so spassig ist der Aufstieg in dieser Hitze nicht. Oben angelangt entschädigt uns Aussicht. Einerseits auf das sich in der Ebene ausbreitende Christchurch und die Berge im Hintergrund, andererseits auf den grossen Hafen von Lyttelton und die mit dürrem Gras überzogenen Hügelzüge der Banks Peninsula, der Halbinsel östlich der Stadt.
Nach einer Stunde erreichen wir die ersten Häuser von Lyttelton, die sich richtiggehend an die steilen Nordhänge der Port Hills klammern. Die Bebauung zieht sich hinab bis zu den Docks des Naturhafens, ein versunkener Vulkankrater. Im kleinen Ort tragen die Strassen grosse Namen wie Dublin Street und London Street. In letztgenannter geht es lebhaft zu und her, originelle Läden und Lokale säumen die Hauptgeschäftsstrasse. Nur zwölf Kilometer von Christchurch entfernt, war der Hafenort das Epizentrum des Bebens vom Februar 2011. Schwer getroffen verlor das beschauliche Lyttelton einen Grossteil seiner historischen Bauten, kaum eine Fassade blieb ohne Risse oder Löcher. Erdbebennarben sind nicht zu übersehen, doch die Reste der zerstörten Gebäude wurden längst weggeschafft.
Nun heisst es endgültig Abschied nehmen von Neuseeland. Noch ein letzter Besuch eines schnuckeligen Cafés steht auf dem Programm, bevor wir uns zum Flughafen aufmachen. Wehmütig winken wir den Neuseeländischen Alpen aus der Vogelperspektive, bevor sich unter uns nur noch Wolken und Ozean ausbreiten. Drei Stunden später funkeln tausende Lichter in dunkler Nacht und der schwere Vogel setzt leichtfüssig auf der Landepiste in Sydney auf. Nach rund eineinhalb Jahren haben wir unser einst so fernes Ziel erreicht – Australien!
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