Berauschende Gibb River Road
Quer durch das Herz der Kimberley, bahnt sich die staubige Gibb River Road wie eine rotbraune Schneise durch die weite Wildnis. Grösstenteils nicht asphaltiert, ist sie mit ihrer Länge von 660 Kilometern eine holprige Abkürzung und verbindet Derby im Westen mit Wyndham und Kununurra im Osten. Auf dem glatten Teerband des Great Northern Highway rollt man 200 Kilometer länger, allerdings wesentlich ruhiger und schneller. In den 1960er-Jahren erbaut, trieben Stockmen, australische Cowboys, riesige Rinderherden zu den Verladehäfen nach Derby oder Wyndham, später übernahmen Roadtrains den Transport von Schlachtvieh. Heutzutage wird die legendäre Outback-Strasse hauptsächlich von Touristen genutzt, die mit einem Geländewagen die Urlandschaft der Kimberley erfahren – so wie wir.
Nach einem schweizerdeutschen Morgentratsch heisst es Abschied nehmen. Auch Conny und Roger sowie Reni und Marcel haben die Gibb River Road im Visier, doch jedes Team bricht für sich auf. Die Dieseltanks randvoll, die Vorräte aufgestockt, der Kühlschrank platzt aus allen Nähten. Gerüstet für die Abgeschiedenheit, verlassen wir nach drei Tagen Kununurra voller Tatendrang. Im Nordwesten Australiens wölbt sich das Kimberley-Plateau – die wilde Region ist äusserst gering besiedelt. Ungefähr zehnmal so gross wie die Schweiz, zählt die Kimberley lediglich die Hälfte der Einwohnerzahl des Appenzellerlandes. Aufgrund des unwegsamen Terrains sind weite Gebiete kaum erreichbar, gewisse Wüstenstriche lebensfeindlich, der 2000 Kilometer lange, fjordähnliche Küstenstreifen undurchdringlich.
Rund ein Dutzend Abzweigungen führen zu den landschaftlichen Höhepunkten der Kimberley sowie Unterkünften. Ansonsten ist kaum Infrastruktur vorhanden, abgesehen von isolierten Aboriginal-Siedlungen gibt es keinerlei Ortschaften. Ein Mobilfunknetz existiert nicht, dafür streunende Tiere und berauschendes Nichts. Das erste Stück der Gibb River Road geteert, gleiten wir geschmeidig. Nach nur kurzer Fahrt schwenken wir mittags zur Emma Gorge ab, beheimatet in El Questro. Die in ein erfolgreiches Touristenresort umgewandelte ehemalige Ranch umfasst eine Handvoll Schluchten sowie Thermalquellen. Beim Anblick des proppenvollen Parkplatzes entweicht uns ein tiefer Seufzer. Obwohl die australischen Schulferien beinahe vorbei sind, scheint der Andrang gross. Nach kurzem Zögern das kostenpflichtige Permit hinter die Autoscheibe geklemmt, marschieren wir dennoch los. Über Stock und Stein dem Flussbett entlang, begleiten uns die in der Sonne rot leuchtenden Felswände der sich stets verengenden Emma Gorge. Nach einer knappen Stunde das schattige Ende der schmucken Schlucht erwandert, stürzt sich ein magerer Wasserfall von senkrechten Klippen in ein eisig kaltes Naturbecken.
Auch am nächsten Morgen sind wir wieder mit Touristenmassen konfrontiert. Ein kurzer Waldspaziergang bringt uns zu den felsigen Zebedee Springs, heisse, und scheinbar heissbegehrte Quellen. In den natürlichen Pools tummeln sich bereits zahlreiche Menschen – vor lauter Fleisch ist kaum mehr Wasser auszumachen. Schleunig machen wir uns aus dem Staub, bestimmt brächten wir die kleinen Becken noch ganz zum Überlaufen…
Wieder auf Achse. Nach insgesamt 50 Kilometern geht die bis dahin asphaltierte Strasse in eine unbefestigte Piste über, von einer Sekunde auf die nächste finden wir uns in einer Rüttelpartie wieder. Im warmen Licht der Nachmittagssonne stauben wir der langgezogenen Cockburn Range entlang, einer bis zu 600 Meter hohen, malerischen Gebirgskette. Immer wieder queren Wasserläufe die Gibb River Road. Ob und wieviel Wasser fliesst, ist vorwiegend von der Jahreszeit sowie der Niederschlagsmenge abhängig. Die Kimberley ist von einem tropischen Monsunklima beeinflusst. In den regenreichen Monaten von November bis April werden Bäche rasch zu heftigen Strömen, sogar Strassen verwandeln sich in reissende Flüsse und es dauert Tage, bis das Wasser wieder abgeflossen ist. In der Regenzeit fallen 90 Prozent der gesamten Niederschläge und die Gibb River Road bleibt geschlossen.
Bevor wir durch den breiten Pentecost River rauschen, suchen wir uns in Flussnähe ein geeignetes Plätzchen für den bevorstehenden Schlummer. Wegen gefährlichen Salzwasserkrokodilen halten wir einen gebührenden Abstand zum Ufer ein, schlagen unser Lager mit Panoramablicken auf den Fluss sowie die Cockburn Range auf. Noch glüht der Sonnenball, verliert aber spätnachmittags immer schleunig an Höhe und Kraft. Schon um halb sechs umhüllt uns stockfinstere Nacht, haufenweise Sterne funkeln am Himmelszelt. Alle anderen Touristen abgeschüttelt, tut der einsame Frieden gut. Umso intensiver nehmen wir die Geräusche der Natur wahr. Insekten zirpen um die Wette, Vögel flattern über unsere Köpfe hinweg. Entferntes Brüllen eines Büffels und vergnügtes Planschen – von Krokodilen? – dringt in unsere Ohren.
Der Wasserstand des berüchtigten Pentecost River sei unberechenbar, gefürchtete „Salties“ lauern gelegentlich auf ein Opfer. Das ansonsten angeratene Durchwaten des Flusses zum Abchecken der Lage ist hier deshalb keine vernünftige Option. Im Schneckentempo queren wir vorsichtig das 60 Meter breite, momentan nur knietief stehende Gewässer und gelangen heil ans andere Ufer. Am Autofenster ziehen schier endlos karge Landschaften vorbei, am Horizont zeichnet sich sanftes Bergland ab. Die Staubpiste ist rau, behutsam rumpeln wir über grauroten Schotter. Die Fahrbahn wird zwar kontinuierlich ausgebessert, ist aber nur mit einem geländetauglichen Allradwagen sicher befahrbar. Von viel Verkehr kann nicht die Rede sein, doch jedes Vehikel wirbelt Unmengen von Staub auf, vor allem jene, die mit einem Affenzahn über die Bodenwellen brettern oder schwerfällig einen Wohnwagen hinter sich herziehen. Für einen kurzen – oder manchmal etwas längeren – Moment der Sicht völlig beraubt, harren die Staubwolken oftmals wie eine Dunstglocke über dem Landstrich.
Im Verlaufe des Tages knapp 200 Kilometer gefressen, sind wir wieder auf der Suche nach einem lauschigen Übernachtungsplatz. Wir zweigen auf ein schmales Strässchen in den Busch ab. Plötzlich stecken wir unverhofft in weichem Sand fest. Unser Landcruiser schafft es weder vorwärts noch rückwärts, da hilft nur noch Schaufeln, und den Reifendruck weiter reduzieren, um uns erfolgreich aus der misslichen Lage zu befreien. Gesagt getan. Einen Steinwurf weiter und mittlerweile 300 Kilometer von Kununurra entfernt, biegen wir auf die Kalumburu Road ein. Das schattige Ufer des breiten Gibb River wartet mit einladenden Campingspots auf.
Ein bekanntes Fahrzeug, zwei bekannte Gesichter. Zufälligerweise treffen wir hier wieder auf die Swiss Nomads – Reni und Marcel haben sich bereits häuslich eingerichtet. Vor zehn Jahren hat das herzliche Paar ihrem stressigen Schweizeralltag den Rücken gekehrt. Ihr Traum vom Leben und Arbeiten im Ausland haben sie wahr, ihr Hobby Tauchen und Reisen zum Beruf gemacht. Es ist überaus spannend, mehr über ihr bescheidenes Nomadenleben zu erfahren, zumal wir ihrem Blog swissnomads.ch schon seit Jahren fleissig Beachtung schenken. Die beiden führen keineswegs ein „normales“ Leben, sind aber trotzdem sympathisch „normal“ geblieben…
Kaum eingedunkelt, sinkt das Quecksilber auf einer Höhe von 400 Metern merklich. Nach den Tropennächten im Top End nicht mehr an Kälte gewohnt, stülpen wir uns seit über einem Monat erstmals wieder eine Jacke über. Auch der nächste Morgen begrüsst uns mit kühler Miene, schenkt uns lediglich zehn Grad. Doch im Nu ist unsere Wohlfühltemperatur wieder erreicht und schon bald zwingt uns intensive Sonneneinstrahlung in den Schatten. Das Landesinnere der Kimberley gilt als die heisseste Ecke Australiens. Die Hitze kann höllisch sein und erreicht Spitzenwerte von 45 Grad.
Abstecher Mitchell Falls. Auf der Kalumburu Road düsen wir nordwärts, geradeaus und immer tiefer in die 250 Kilometer lange Sackgasse hinein. Zu Beginn ist die Schotterpiste in einem verhältnismässig guten Zustand, wurde wohl erst kürzlich neu gehobelt. Im Vorfeld wurden uns über die miserable Zufahrtsstrecke zu den entlegenen Mitchell Falls von verschiedenen Seiten Schauermärchen aufgetischt, so dass wir verunsichert beinahe von einem Besuch absahen. „Dutzende Fahrzeuge erlitten eine Panne, warten seit Tagen auf Abschlepphilfe“, warnte uns ein junger Australier. Vielleicht war das doch etwas übertrieben, zum Glück. Mittlerweile poltern unsere Räder jedoch über grobes Wellblech, mit Löchern oder tiefen Auswaschungen ist stets zu rechnen. Nach 170 Kilometern kommt uns der King Edward River in die Quere, wo wir den heissgelaufenen Pneus eine Abkühlung verschaffen können.
Den idyllischen Flusslauf hinter uns gelassen, schwenken wir zu einer bedeutenden Felskunststätte der Aborigines ab. Die Kimberley war eines der ersten besiedelten Gebiete Australiens, verschiedene Urvölker leben seit mindestens 40’000 Jahren hier. Noch heute ist die Kultur der Ureinwohner hier tief verankert. Langsam schlendern wir durch die verwitterte Gesteinskulisse, nehmen die alten Felsmalereien unter die Lupe. Mit riesigen runden Augen und grosser Nase blicken uns mundlose Gesichter entgegen – Wandjinas, Felszeichnungen von spirituellen Herrschern und Gottheiten mit einem Heiligenschein.
Zur Abwechslung nächtigen wir heute nicht in wilder Natur, sondern lassen uns auf dem einfachen Campingplatz am malerischen King Edward River nieder. Der Landstrich ist saftig grün, Eukalyptusbäume und Tropenpflanzen säumen das Ufer, spiegeln sich auf der schillernden Wasseroberfläche. Über eine hinreissende Felslandschaft spazieren wir bis zu einem kleinen Wasserfall. Die brüllende Nachmittagshitze treibt uns zur Abkühlung in den Fluss, denn es gibt hier weder eine Dusche noch Krokodile… Abends kassiert das für den Campingplatz zuständige Ehepaar die Übernachtungsgebühren ein und wir erkundigen uns nach dem Zustand der verbleibenden 80 Kilometer. „Wollt ihr die Wahrheit wirklich wissen?“, murmelt die ältere Dame stirnrunzelnd. „Schlecht.“
Lichter Wald mit Australischen Schirmpalmen überzieht das Mitchell Plateau, grün soweit das Auge reicht. Doch meist haftet mein Blick wie der des Lenkers auf der Fahrspur. Ich bin angespannt, fühle mich wie auf dem Zahnarztstuhl. Alles vibriert, das Scheppern des Autos tut einem weh. Roland hochkonzentriert am Steuer, versucht ein optimales Tempo zu finden. Wir reden kaum miteinander, der Geräuschpegel der entsetzlichen Waschbrettpiste ist schlichtweg zu hoch. Es ist kaum zu glauben, dass die schmale Staubstrasse erst vor drei Wochen plattgewalzt wurde. Demzufolge können wir uns trotz allem glücklich schätzen, das Gerüttel könnte haarsträubender sein… Zwei Stunden später finden wir uns wohlbehalten auf dem Campingplatz des abgelegenen Mitchell River Nationalparks ein. Wir sind dankbar, ist unser Schutzengel mitgeritten – die Rückfahrt blenden wir vorerst aus.
Die Sonne strahlt, es ist drückend heiss. Die Küste unweit, die Höhe nur noch 200 Meter über Meer. Wir schwärmen zu den nahegelegenen Little Mertens Falls aus. Schweissüberströmt hüpfen wir in den märchenhaft von Palmgewächs umgebenen Badepool am Fusse des breiten Wasserfalls, der wie ein weisser Vorhang von den Felsen tröpfelt. Unsere erhitzten Gemüter abgekühlt, der Nachmittag im Schatten verstrichen, begrüssen uns auf dem Campingplatz die Swiss Nomads. Erneut kreuzen sich unsere Wege – es soll nicht das letzte Mal sein. Conny und Roger werden wir auf der Gibb River Road leider nicht mehr antreffen, da sie wegen eines Lecks in ihrem Treibstofftank umkehren mussten…
Frühmorgens stehen wir auf, wie die Sonne auch. Kurz nach sieben legen wir mit geschnürten Wanderschuhen los. Durch Savannenwald und Wüstengras, über grobe Steinbrocken und glatte Felsrücken, gelangen wir zum oberen Ende der Big Mertens Falls, die sich in eine abgrundtiefe, enge Schlucht kippen. Nur noch wenige Schritte trennen uns vom Highlight der Kimberley. Wie über eine Treppe ergiesst sich der Mitchell River weiss schäumend in breiten Kaskaden über drei Becken und insgesamt 150 Meter in die Tiefe. Im Rausch kraxeln wir über das berauschende Plateau, dessen glattgeschliffene Felsen wie lackiert in verschiedenen Farbnuancen glänzen, und bestaunen das tosende Spektakel von oben. In der Regenzeit sind die Fälle wegen Überschwemmungen nicht zugänglich und nur aus der Vogelperspektive zu begutachten. Auch jetzt rotieren zahlreiche Hubschrauber lautstark über unseren Sonnenhüten und trüben die Idylle – erstaunlich, wie viele Leute sich die teure Anreise durch die Luft leisten.
Der Frontanblick auf die Mitchell Falls verschlägt uns die Sprache. Auch wenn die Wasserfälle in der Trockenzeit nicht von Wassermassen strotzen, ist das Landschaftsbild perfekt inszeniert. Exponierte Felsen gewähren uns einen sensationellen Ausblick. Ein Schattenplätzchen aufgespürt, können wir sogar Verweilen und vor dieser imposanten Naturkulisse unser Picknick schmausen. Nahe der Felskante schaffen wir uns entlang der rauschenden Fälle zum Fluss zurück, wo wir uns in einem langen Wasserbecken mit ein paar Schwimmzügen erfrischen, bevor wir den Rückweg der acht Kilometer langen Wanderung antreten.
Die Sonne feuert vom stahlblauen Himmel, unsere Rücken brennen heiss wie eine Herdplatte – bestimmt könnten wir Spiegeleier darauf braten. Ein kleines Tierchen mit weissen Tupfen hockt auf dem Weg. Der Zwergbeutelmarder ist leider scheu und flitzt davon, sobald er uns gerochen hat… Ich meine, einen Geist zu erblicken und blinzle mehrmals, um meinen Augen zu trauen. Unverhofft kommen uns Conny und Roger entgegen, die wir in Broome meinten, um ihren defekten Tank zu flicken. Wider Erwarten liess sich der Schaden im kleineren, aber näheren Kununurra reparieren. Deshalb sind die beiden nun trotzdem hier und das mögen wir ihnen von Herzen gönnen. Einem gemütlichen Schweizerabend zu sechst am wärmenden Lagerfeuer steht nun nichts mehr im Wege…
Nach zwei wundervollen Tagen im Mitchell River Nationalpark machen wir uns auf die Rückfahrt, und aufs Schlimmste gefasst. Erneut unterbrechen wir unsere Reise beim King Edward River, wo wir an einem plätschernden Seitenarm einem einsam ruhigen Nachmittag frönen. Am nächsten Tag knacken wir die restlichen Kilometer des langen abenteuerlichen Abstechers, der sich jedoch zweifelsohne gelohnt hat. Verkrampft klammere ich mich am Lenkrad fest, zermürbende Querrillen übernehmen beinahe das Zepter. Karosserie und Innenleben scheppert, unsere Knochen ebenso. Mittags sind wir zurück am Gibb River, breiten uns im Schatten der Bäume aus und richten am Flussufer ein luftiges Freiluftbüro ein. Nach getaner Arbeit ruft der Schwatz – die Schweizertruppe ist heute Abend wieder vereint, dem Zufall sei Dank.
Nach sechs Nächten zurück auf der „Gibb“. Die Strasse leuchtet in einem satten Rot, scheint manchmal um ein Haar zu glühen. Die Vegetation entlang der Fahrbahn ist oft genauso rot gepudert – die von den Fahrzeugen aufgewirbelten Staubwolken senken sich wie ein Schleier über die Savannenlandschaft. Nach 80 Kilometern biegen wir zur Barnett River Gorge ab, die über einen kurzen schmalen Track erreichbar ist. Trotz sengender Gluthitze brechen wir für eine kurze Wanderung entlang der Abbruchkante der kaum besuchten Schlucht auf. Die verwitterten Felsformationen sind interessant, von weiss über grau bis rötlich schimmernde Brocken, wie Bauklötze gestapelt. Schatten zu finden ist einmal mehr fast ein Ding der Unmöglichkeit. Ausgelaugt erfolgt eine erste Abkühlung im Fluss, eine zweite nach dem Eindunkeln…
Vom höchsten Punkt der Gibb River Road auf rund 500 Metern Höhe, geht es nun stetig leicht bergab. Eine Fahrstunde später tauchen die raren Zapfsäulen des Barnett Roadhouse auf – die Versorgungsstation liegt auf etwa halber Strecke. Diesmal kommen wir nicht darum herum und müssen uns trotz zwei Treibstofftanks von insgesamt 180 Liter Fassungsvermögen mit teurem Diesel versorgen – über zwei Dollar kostet der Liter, 50 Prozent mehr wie an anderen Orten. Dafür können wir nach einer guten Woche endlich unseren Müll entsorgen, Trinkwasser auffüllen und einen eisgekühlten Eiskaffee schlürfen.
Ein sieben Kilometer langes Nebensträsschen erschliesst die Manning Gorge. An einem Seil ziehen wir uns in einem kleinen Boot über den brusttiefen Manning River und schustern vom gegenüber liegenden Ufer zur besagten Schlucht. Binnen einer hitzigen Stunde erlangen wir schweissgeperlt den Wasserfall und lassen uns ins tiefe Badebecken gleiten – herrlich. Unser Blick fällt auf die im Sonnenlicht rötlich aufflammenden Wände der Felsschlucht. Am Nachmittag erneut verschwitzt den Ausgangspunkt wieder erreicht, nutzen wir die sanitären Einrichtungen des Campingplatzes, was auch den Tagesgästen erlaubt ist. Eine richtige Dusche – die reinste Wohltat und kein Vergleich zum spärlichen Strahl unserer Solardusche oder der Haarwäsche mit einer PET-Flasche.
Wildes Campen entlang der Gibb River Road ist nicht überall gestattet. Grosse Gebiete werden für die Viehzucht genutzt und das meiste Land ist in Besitz von riesigen Farmen. Trotz klimatisch schwieriger Bedingungen spielt die Rinderzucht bis heute eine entscheidende Rolle. Allerdings wurde der Tourismus für viele Cattle Stations eine zweite wichtige Erwerbsquelle, sie bieten Übernachtungsmöglichkeiten und Touren an. Wir bevorzugen, nicht jede Nacht im Trubel oder den engen Platzverhältnissen eines kostspieligen Campingplatzes zu nächtigen und lassen uns oftmals von unserem praktischen Offline-App inspirieren. An den Adcock River gelotst, richten wir unser Schlafgemach her. Ein wunderbares Örtchen, eigentlich Natur pur, doch einmal mehr sammeln wir herumliegenden Abfall von unseren Vorgängern ein. Gewisse Camper verschandeln die Umwelt achtlos, sägen zu unserem Entsetzen heute sogar dünne Bäume für ein Feuer ab.
Wegweiser Bell Gorge, mittlerweile 440 Kilometer von Kununurra entfernt. Ein paar dreckige Pfützen durchquert, windet sich eine Schlange elegant über die 30 Kilometer lange Zubringerstrasse, kurz bevor wir auf dem Parkplatz ankommen. Redland, der rote Landcruiser von Conny und Roger, lacht uns entgegen. Wir freuen uns auf das schicksalhafte Wiedersehen, von dem die beiden noch nichts ahnen. Durch eine steinige Buschlandschaft geraten wir in die Bell Gorge, durchwaten oberhalb des Wasserfalls die entzückende Flusslandschaft und klettern auf dem steilen Weg hinab zum erfrischenden Badepool. Der Bell Creek rauscht über fünf hohe Stufen und ist zu beiden Seiten von mächtigen Felswänden eingerahmt. Nebst uns vier, tummeln sich noch scharenweise Badenixen auf dem beliebten Fleck…
Weiter auf der „Gibb“, die eindrucksvolle King Leopold Range im Blickfeld, neigt sich schon wieder ein befriedigender Tag dem Ende entgegen. Unser Übernachtungsspot liegt zwar nah an der Strasse, die Idylle überwiegt aber dennoch. Unser Freiluftwohnzimmer zum rauschenden Bach ausgerichtet, unter einem schütteren Schattendach von Eukalyptusbäumen. Vom Singsang der Vogelwelt einmal abgesehen, bleiben wir heute unter uns. Die noch vorbei staubenden Fahrzeuge sind glücklicherweise an einer Hand abzuzählen, der Abend klingt heute in Frieden aus.
Staubfahnen wehen über der Piste, tarnen gefährlich den Verkehr. Der wohl reizvollste Abschnitt der Gibb River Road birgt schroffe Hügelzüge, unverkennbare Silhouetten von Boab-Bäumen ragen in den weiten Himmel. Ihr Blätterkleid in der Trockenzeit abgeworfen, stellen sie sich kahl zur Schau. Das Wahrzeichen der Kimberley ist heute ein treuer Reisebegleiter und wartet in allen nur erdenklichen Grössen und Formen auf – wir können uns kaum sattsehen. Noch 130 Kilometer vom Ende der Gibb River Road entfernt, stechen wir erneut auf eine Nebenpiste ab. 20 Kilometer getilgt, liegt die Windjana Gorge vor unseren Rädern. In der brütenden Mittagshitze, mittlerweile auf nur noch 100 Höhenmetern, lassen wir die Schlucht – die wievielte wohl? – vorerst links liegen und holpern weiter.
Nach zahllosen fetten Termitenhügeln am Wegesrand und weiteren 40 Kilometern, landen wir im Tunnel Creek Nationalpark. Der Sonne überdrüssig steigen wir in den Untergrund, wo uns angenehme Temperaturen und gespenstische Düsterheit einfangen. Mit Stirnlampe bewaffnet, tapsen wir vorsichtig über den sandigen Boden und waten stellenweise durch knietiefe Wassertümpel des Tunnel Creek. Die tunnelartige Höhle ist ungefähr 700 Meter lang, in der Mitte ist ihr Dach eingestürzt. Tageslicht tänzelt über die Wasseroberfläche, die Felswände spiegeln sich im eiskalten Nass. Im bis zu zwölf Meter hohen Kalksteintunnel hängen dicke Stalaktiten wie wuchtige Kronleuchter von der Decke. Aus dem pechschwarzen Wasser blitzen grellrote Krokodilaugen – ein kalter Schauer überzieht meinen Rücken.
Zurück im Windjana Gorge Nationalpark. Es war beinahe voraussehbar, dass wir Conny und Roger hier ein weiteres Mal treffen. Unsere Freunde haben sich auf dem Campingplatz bereits wohnlich ausgebreitet, auch uns eine Ecke eingeräumt. Nebst uns bevölkern auch schlanke, bildschön gezeichnete Echsen das Revier, rollen zur Fortbewegung auf dem Boden ihren langen dünnen Schwanz neckisch auf… Das milde Licht der Nachmittagssonne pinselt die schroffe Schluchtwand in warme Farbtöne und verleiht dem fabelhaften Geäst der Boabs einen zarten Glanz. Eine Spalte im grau-orange verwitterten Fels markiert den Eingang zur Schlucht, dahinter öffnen sich die grünen Uferzonen des Lennard River. In der Regenzeit schwillt der Fluss an, in der Trockenzeit hingegen präsentiert sich nur noch eine Reihe von schlammigen Billabongs. Beide heute besuchten Nationalparks zeugen davon, dass der Nordwesten Australiens vor rund 350 Millionen Jahren von einem tropischen Ozean bedeckt war, wo zu jener Zeit im warmen Wasser ein immenses Korallenriff gedieh. Später wurde die Landmasse angehoben, das uralte Riff durch Erosion freigelegt und im weiteren Zeitlauf beeindruckende Schluchten gebildet.
Am Ufer und auf den gegenüberliegenden Sandbänken lauern „Freshies“. Immer wieder erspäht Roland auf der Wasseroberfläche treibende, kaum erkennbare Reptilienrücken – er verfügt wohl über Krokodilaugen. Zu unseren Füssen dösen prächtige Exemplare wie tiefgefroren im Sand, tanken reglos erste Sonnenstrahlen. Normalerweise harmlose Gesellen, halten wir dennoch einen Sicherheitsabstand ein, um sie bei ihrem frühmorgendlichen Nickerchen nicht zu stören. Scharen von Süsswasserkrokodilen leben in der Windjana Gorge, deren senkrechten Wände sich bis zu zu 100 Meter über den Lennard River recken. Der Fluss hat eine tiefe und bis über drei Kilometer lange Schlucht in die alten Kalksteinfelsen der urzeitlichen Meereslandschaft gefressen.
Ein Trampelpfad führt dem Fluss und den zackigen Felskämmen entlang, über puderfeinen Sand, der sich wie brauner Mehlstaub an unsere Beine heftet. Weissstämmige Eukalyptusbäume sind nicht zu übersehen, nach den Wegmarkierungen halten wir jedoch ständig Ausschau. Manchmal stehen sie an einer falschen Stelle, leiten uns in die Irre. Irgendwann fehlen die Pfeile gänzlich, der Weg verendet im Busch. Hoch oben an den Felshängen thronen erhaben Boab-Bäume, ein Känguru hüpft wie ein Gummiball über grosse Steinbrocken, nichts wie weg. Haben wir das Ende des Pfads erlangt? „I lost the path“, klagt ein älterer Herr, sein Tonfall verrät arge Enttäuschung. Auch für uns sind die Beschilderung, die Distanzangaben oder auch die Wartung der ausgeschriebenen Wanderwege hin und wieder unbefriedigend. Manchmal zweifeln wir an uns selbst, aber heute gibt uns der geknickte Weggefährte immerhin Bestätigung, dass wir nicht an Dummheit scheitern. Mittags den Rückweg schon bald gemeistert, tauchen weitere Wanderer auf. „Is the coffee machine still working?“, scherzt ein Aussie ganz australisch. Na ja, die Frage ist durchaus berechtigt, ist es keine Seltenheit, dass ein Café bereits mittags seine Pforten schliesst.
Nach zwei Nächten queren unverhofft Reni und Marcel unseren Weg. Im Staub der Strasse quatschend, gesellen sich etwas später noch Dagmar und Thomas dazu – das deutsche Paar haben wir auch schon mehrmals angetroffen. Auf der gleichen Route und in derselben Richtung unterwegs, sieht man sich unweigerlich wieder. Lachend knipsen wir von uns und den drei Landcruisern ein Erinnerungsbild, bevor wir uns wieder verabschieden, bis irgendwann… Unser Ziel schon fast vor der Türe stehend, möchten wir noch ein letztes Mal die friedvolle Natur auskosten. Unbemerkt huschen wir irgendwo ins Nirgendwo. Der beschauliche Platz am May River birgt zwar wenig natürlichen Schatten, doch es weht eine angenehme Brise und ab vier Uhr nachmittags wird der Sonnenschein durchaus erträglicher. Glücklich genehmigen wir uns einen 1. August-Apéro, geniessen die zweisame Stille, bevor uns schon kurz nach fünf zügig die Dämmerung überfällt – wie immer viel zu früh.
Windböen zerren energisch an unseren Zeltwänden, rütteln uns mitten in der Nacht unbarmherzig aus dem Tiefschlaf. Noch am Morgen bläst ein ungewohnt frostiger Wind und bleibt uns den ganzen Tag treu, das Thermometer vermag nicht gegen 30 Grad klettern. Ein tropischer Wintereinbruch. Noch 70 Kilometern trennen uns von Derby, einem unspektakulären Städtchen der West-Kimberley mit 4000 Einwohnern. An der Küste gelegen, bekannt wegen des gewaltigen Gezeitenhubs von bis zu zwölf Metern – dem höchsten in Australien und einem der höchsten weltweit… Mit dem Kompressor verleihen wir unseren Reifen wieder Härte, der Endspurt führt ruhig auf Asphalt weiter. Und ehe wir uns versehen, hat uns die Zivilisation nach 14 überwältigenden Wildnistagen wieder geschnappt. Unser Fahrzeug trägt knapp 1500 Fahrkilometer mehr auf dem Buckel und wir eine berauschende Kimberley-Erfahrung im Herzen…
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