Bergfrieden in Nufenen – am Hinterrhein
Hochsommerlich die Temperaturen, sogar in Nufenen auf knapp 1600 Metern über Meereshöhe. Auf dem Balkon des Ferienhäuschens staut sich am Nachmittag abweisend die mollige Hitze des Tages.
Eben erst hier oben angekommen und eingenistet, bummeln wir durch das verschlafene Bergdorf. Ein versöhnliches Lüftchen weht durch die ausgestorbene Dorfstrasse, wo sich ansehnliche Häuser und alte Ställe aneinanderreihen. Erst als sich gegen Abend Wolkenfetzen vor die Augustsonne schieben, wird es auf dem Balkon erträglicher, und es bleibt sogar bis in die Nacht hinein mild. Mit einem kühlen Bier stossen wir auf unsere Schweizerferien an und gucken versonnen in die umliegende Bergwelt. Nufenen im Kanton Graubünden ist das zweitoberste Dorf des Rheinwalds – der San Bernardinopass ist nicht mehr fern.
Der Wetterbericht kündigt weitere Hitzetage an, die Nullgradgrenze schwingt sich ungewohnt hoch hinaus. Beizeiten schlüpfen wir deshalb aus den viel zu warmen Federn und nutzen die Morgenfrische. Mit geschnürten Wanderschuhen streben wir höheren Gefilden entgegen. Die ersten Tage sind wir zu dritt unterwegs – Rolands Schwester Esther leistet uns Gesellschaft. Im Nu scheint die Sonne jeweils wacker vom Himmel und während wir in die Höhe schweifen, tut es auch das Thermometer. Schweiss perlt aus unseren Poren, und schattigen Wald heissen wir willkommen, ebenso jegliche Gewässer. Häufig schöpfen wir dankbar einen Sonnenhut voll Wasser und kippen es über unsere glühenden Birnen.
Auch wenn das Wanderwetter nach unserem Geschmack etwas gar heiss ausfällt, geniessen wir die Tagestouren in der Umgebung und den gutmütigen Bergfrieden. Eines Tages schustern wir vom Dorf San Bernardino über bucklige Alpwiesen bergwärts und durchqueren die malerische Moorlandschaft am San Bernardinopass. Der mit kleinen Seen gesprenkelte Landstrich und die umliegenden Gebirgszüge sind ein Hingucker. Auf der anderen Seite wieder abgestiegen, geht es dem sprudelnden Hinterrhein entlang nach Nufenen zurück.
Ein andermal kurven wir über den Splügenpass nach Montespluga in Italien; das Bergdorf liegt nur ein paar Hundert Meter von der Schweizergrenze entfernt.
In einer atemberaubenden Rundtour wandern wir am tiefblauen Lago die Emet vorbei und erklimmen über Trümmer und Geröll den anspruchsvollen Pizzo Spadolazzo. Mit seinen 2722 Metern Höhe ist er buchstäblich der Höhepunkt unserer Wandertage. Während wir picknicken und der Blick über das hochalpine Gipfelpanorama rundum schweift, brennt die Mittagssonne unermüdlich. Der rutschige Abstieg zum Lago Nero ist steil und lang und erfordert volle Konzentration.
Mein persönliches Highlight dieser Tage zu dritt ist die Wanderung vom Nachbardorf Splügen zu den Surettaseen, die sich reizvoll in eine felsige Bergkulisse betten. Auf einem Hochplateau auf knapp 2300 Metern liegt der obere Surattasee verträumt inmitten saftiger Alpweiden. Kühe grasen, ihre Glocken bimmeln, ansonsten ist es still. Die umliegenden Bergspitzen spiegeln sich im klaren See. Aufgekratzt suchen wir uns ein Plätzchen am Ufer und kramen hungrig die mitgebrachten Leckereien aus dem Rucksack. Den knurrenden Magen besänftigt, schafft es der alpine Hochsommer, dass sogar ich mich für eine Abkühlung in den spiegelglatten See gleiten lasse. Das gefühlt eiskalte Wasser prickelt auf der Haut und mutet wie feine Nadelstiche an – eine belebende Erfrischung.
Als Esther abgereist ist, steht erneut eine Wandertour auf unserem Programm. Diesmal geht es direkt von der Haustüre zu Fuss los. Hoch über einem bewaldeten Seitental wandern wir im Morgenschatten bis zur Alp de Rog, wo sich ein anstrengender Pfad im Zickzack den Steilhang hinaufwindet. Murmeltiere stossen spitze Warnpfiffe aus, bevor sie schutzsuchend in ihre Bauten hetzen. Endlich den Vignonepass erlangt, haben wir uns eine Verschnaufpause verdient. Mit Appetit schnabulieren wir in unberührter Alpenlandschaft, bevor der Wanderweg durch ein weites Hochtal führt. Kühe weiden, so manche muht, Zweibeiner sind keine in Sicht. Der Abstieg nach San Bernardino zieht sich in die Länge und raubt zusehends meine Kräfte. Abends düsen wir mit dem Postauto in einer Viertelstunde bequem durch den Tunnel nach Nufenen zurück.
Ende der Woche droht das Wetter allmählich umzuschlagen, auch sind wir wandermüde und pausieren. Genüsslich tanken wir noch eine Portion Sonnenschein auf dem Balkon oder legen uns in die Hängematte und baumeln im Schatten, bevor die angekündigten Wolken dominieren. Uns gegenüber recken die Gipfel von Einshorn und Guggernüll in den weiten Himmel – beides Bergriesen von fast 3000 Metern Höhe. Ein mächtiges Duo.
Anderntags zieht es uns talwärts zur Rofflaschlucht in der Nähe von Andeer. Der Zugang liegt beim gleichnamigen Gasthaus an der alten Strasse, die in dieser Gegend früher der einzige Verbindungsweg über die Alpen nach Italien war. Es war ursprünglich eine Raststätte für Mensch und Tier, die an Bedeutung verlor, als die Gotthard-Route eröffnet wurde. Für die damalige Wirtefamilie wurde es finanziell eng und von den Niagara-Fällen inspiriert, begann der Besitzer Christian Pitschen-Melchior in mühsamer Handarbeit, sich einen Weg in die Schlucht zu bahnen. Von 1907 bis 1914 schaffte er sich mit Handbohrer, Kraft und Ausdauer sowie Tausenden von Sprengladungen bis zum versteckten Wasserfall vor. Mit dem Wasserfall liess sich Geld verdienen – und lässt es sich bis heute. Von der Geschichte tief beeindruckt, wandeln wir ehrfurchtsvoll durch die wildromantische Felsengalerie. Kaum nachzuvollziehen, wie es vor über hundert Jahren gelang, diese zerklüftete Schlucht begehbar zu machen. Auch verblüfft uns, dass der Weg sogar hinter dem Rofflafall und somit unter dem Rhein hindurchführt. Tosend stürzen sich Wassermassen weiss schäumend in die senkrechte Tiefe, die nassen Felsen glänzen im Sonnenlicht.
Andeer ist bekannt für sein gepflegtes Dorfbild. Hingerissen streifen wir durch die beschaulichen Strassenzüge und betrachten die hübschen Häuser. Noch kann sich die Vormittagssonne gegen aufziehende Wolken durchsetzen.
Talaufwärts ist Splügen einen weiteren Halt wert. Der alte Dorfteil wartet mit herrschaftlichen Häusern und typischen dunklen Holzhäusern mit Steindächern auf. Das vorzüglich erhaltene Walserdorf wurde 1995 mit dem Wakkerpreis des Heimatschutzes ausgezeichnet. Launiger Wind weht, erste Tropfen fallen. Nachmittags verkriechen wir uns in die gute Stube.
Während es draussen unaufhörlich regnet, schlürfen wir Kaffee und naschen feine Bündner Nusstorte. Anderntags schlafen wir aus und freuen uns auf einen hausgemachten Sonntagszopf vom Hofladen, wo uns auch Konfitüre, Salsiz und jede Menge andere Spezialitäten verführerisch anlachen. Ebenso in Selbstbedienung und auf Vertrauensbasis gibt es in der Sennerei rund um die Uhr Bergkäse und Joghurt zu kaufen. Sämtliche Produkte stammen aus dem Dorf und zaubern uns einen leckeren lokalen Brunch auf den Frühstückstisch.
Das Ende des Regenwetters ist so bald noch nicht in Sicht. Der Wasserpegel des Hinterrheins ist inzwischen bedrohlich angestiegen, der Fluss tobt wütend talwärts. Die Temperaturen haben sich im einstelligen Bereich eingependelt und sind über zwanzig Grad tiefer als zuvor. Fast über Nacht ist aus dem Hochsommer Winter geworden, auch in der Stube. Als wir trotz warmen Kleidern frieren, schmeisst Roland ein paar Holzscheite in den Ofen, um der Ferienwohnung etwas Behaglichkeit einzuhauchen. Plötzlich sind wir nachts froh um die dicken Daunendecken.
Als sich nach drei entspannten Tagen im grauen Wolkenvorhang zaghaft eine Lücke öffnet, offenbaren sich schneeweisse Bergkämme. Während es im Rheinwald noch grau verhangen und ungemütlich ist, finden wir Sonne und Wärme hinter dem San Bernardino-Pass im Südzipfel der Schweiz. Im Misox spazieren wir von Soazza auf der ehemaligen Bahnlinie nach Mesocco, wo auf einer Felsnase eine riesige Burgruine thront. Von den alten Mauern des Castello di Mesocco bietet sich ein einmaliger Blick ins italienischsprachige Bündnertal.
Ein anderes Mal stiefeln wir im Tessin durch Kastanienwald bergauf zur bekannten Ponte Tibetano. In schwindelerregender Höhe flanieren wir wankend über die 270 Meter lange Hängebrücke oberhalb von Bellinzona.
Und dann spielt die Sonne endlich auch in Nufenen wieder die Hauptrolle. Voller Elan packen wir den Tagesrucksack und marschieren zügig los, um in der noch frischen Morgenluft nicht auszukühlen. Bald lotst uns der Wanderweg jedoch jäh in die Höhe, fordert unsere Beinmuskeln und Lunge heraus, und geschwind wird uns warm ums Herz. Die Septembersonne strahlt, der Wind ist bissig – es ist herbstlich geworden. Das bestätigen auch die fabelhaften Ausblicke auf die verschneiten Berggipfel. Schnaubend erreichen wir die Alp Piänetsch auf knapp 2200 Höhenmetern und rasten. Keine Menschenseele taucht auf, ein friedlicher Fleck. Gestärkt machen wir uns an den Abstieg über Wiesen und Weiden, an unzähligen alten Heuställen vorbei. In der Ferne erspähen wir die Haarnadelkurven der San Bernardino-Passstrasse.
Unten angekommen, im Passdorf Hinterrhein, dem obersten Dorf im Rheinwald, studieren wir den unregelmässigen Postautofahrplan. Bis zur Abfahrt bleibt noch eine Stunde, was sich als Glückstreffer herausstellt: Ein Streifzug durch das Nest lohnt sich durchwegs. Das Walserdorf versprüht einen ganz besonderen Charme und erinnert an vergangene Zeiten. Um 1270 kamen erste Siedler aus dem Wallis über den San Bernardinopass und liessen sich hier nieder. Es scheint fast, als wäre die Zeit stehengeblieben und die Welt hier noch in Ordnung. Unschuldig plätschert der Dorfbrunnen, die schmucken Häuser sind liebevoll mit Blumen geschmückt, Bausünden findet man keine.
Und dann ist er da, der letzte Abend. Beinahe zwei Wochen sind um, allerdings haben wir das Zeitgefühl fast etwas verloren – wahrscheinlich dank dem regen Wechsel der Jahreszeiten. Die winterlichen Regentage haben uns nicht nur die heitere Sommersonne genommen, sondern auch entschleunigende Tage „daheim“ geschenkt. Aber wir begrüssen, dass der Sonnenschein zurück ist und wir endlich nochmals den aussichtsreichen Balkon nutzen können. Während wir zufrieden ein Bierchen schlürfen, saugen wir die wohligen Strahlen in uns auf, bevor sich der Sonnenball hinter die Dächer verabschiedet. Die Zeit in Nufenen war wunderbar erholsam, auch wenn die vom Wandern schmerzenden Knie und Füsse etwas anderes erzählen…
Kommentare
Bergfrieden in Nufenen – am Hinterrhein — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>