Ein idyllisches Plätzchen im Val d‘Isone
Es ist Spätsommer. Während wir im Stau stehen, strahlt die Morgensonne wacker vom Himmel. Auf den Schweizer Autobahnen ist viel los, und als wir am späten Samstagnachmittag im Tessin ankommen, fühlt es sich an, als seien wir viel weiter gereist. Südlich des Monteceneri schwenken wir ins Val d‘Isone ab. Der Asphalt gräbt sich kurvenreich ins kleine Seitental, rasch gewinnen wir an Höhe. Bevor man Isone am hinteren Talende erreicht, schmiegt sich Medeglia auf rund 700 Metern verschlafen an den sonnenverwöhnten Südhang. Ausserhalb des Dörfchens parken wir das Auto, von hier geht es nur noch zu Fuss weiter. Beladen wie Packesel schnauben wir durch Laubwald bergan. Nach zehn schweisstreibenden Minuten schiebt sich das gebuchte Rustico in unser Blickfeld – wir sind erleichtert. „Wow, was für ein idyllischer Fleck“, hauche ich atemlos. Unsere Herzen hämmern, auch vor Freude. Die Lebensmittel eben in den Kühlschrank verfrachtet, sinkt die Abendsonne schon hinter die Bäume.
„Unser“ Rustico – ein Schmuckstück im Grünen
Das allein auf einer Waldlichtung stehende Häuschen hat unser Herz im Nu erobert. Der etwa hundertjährige ehemalige Stall wurde stilvoll umgebaut und die aus einheimischem Kastanienholz gefertigten Bauelemente und Möbelstücke fügen sich harmonisch in die Natur ein; die Liebe zum Detail ist überall zu spüren. Dank Glasfenstern im Boden der oberen Etage flutet Tageslicht den heimeligen Wohnraum im Erdgeschoss. Die Architektur ist allgemein gelungen, Küche und Bad sind modern, was zusammen mit den rustikalen Elementen für eine reizvolle Kombination sorgt. Auch unseren Geschmack trifft der grosszügige Umschwung, wo eine Grillstelle, Liegestühle, ein Badezuber und gutmütige Ruhe auf uns wartet. Kleine Bachläufe begrenzen das Wald- und Wiesengrundstück, nach Süden eröffnet sich ein Blick auf die Berge der gegenüberliegenden Talseite. Das nächste Nachbarhaus ist etwa zweihundert Meter entfernt und versteckt sich ebenso auf einer Waldlichtung.
Zufrieden rühre ich im Kochtopf, bei einem Teller Pasta stimmen wir uns auf die italienische Schweiz ein. Auch abends bleibt die Tessiner Luft mild, und im Schlafzimmer im oberen Stock sitzt die Wärme des heiteren Sommertages fest. Bei weit aufgerissener Fenstertüre fallen wir später müde ins Bett. Was für ein Gefühl, frühmorgens naturnah aufzuwachen: Die hohen Bäume wiegen im Wind, sanft rascheln deren Blätter, Vögel pfeifen. Erste Sonnenstrahlen schmuggeln sich durch das Blattwerk des Waldes und küssen meine Nasenspitze. Erst um neun steht die Augustsonne genügend hoch, um ihre Strahlen auf unseren Frühstückstisch im Garten zu werfen. Ein Morgenkaffee inmitten der lauschigen Natur tut gut; es fühlt sich etwas an wie wildes Campieren, nur luxuriöser. Allmählich klettert die Sonne höher, ebenso das Thermometer. Wunschlos glücklich legen wir uns auf die Liegestühle im Schatten. Zum Entspannen frohlocken verschiedene Plätzchen rund ums Haus, sonnig oder schattig, je nachdem, was einem gerade lieb ist. Das ist es, was wir daheim manchmal vermissen…
Aussichtsreiche Cima di Medeglia
Nach einem ersten Ruhetag kribbelt es uns in den Füssen und wir schnüren die Wanderschuhe. Hinter dem Rustico führt ein Pfad in den Kastanienwald, beschwingt stiefeln wir bergauf. An verlassenen Steinhäusern vorbei geht es weiter durch ein Moorgebiet und lichten Birkenwald, wo grünes Gras und Farne spriessen. Dann öffnet sich das Gelände und über sonnige Alpweiden erreichen wir nach eineinhalb Stunden den angepeilten Gipfel: Cima di Medeglia. Auf 1260 Metern Höhe thront ein Gipfelkreuz. Der Gipfel ist allerdings mehr eine Hügelkuppe wie ein Bergspitz. Die Rundumsicht ist aber trotz geringer Höhe aussichtsreich: Hingerissen schweifen unsere Blicke vom Luganersee im Süden über den Monte Tamaro im Westen und weiter über den Lago Maggiore und Bellinzona bis zu den Alpenketten im Norden. In einer grossen Schleife erwandern wir weitere Aussichtspunkte. Nur wenige Menschen sind auf den Beinen, sogar der Weiler Canedo oberhalb von Medeglia wirkt bei unserem Abstieg wie ausgestorben.
Verschwitzt kehren wir frühnachmittags in unsere Wohlfühloase zurück. Flink streifen wir die Klamotten vom Leib und steigen splitternackt in den Badezuber. Das frostige Wasser prickelt auf der Haut, mir stockt der Atem. Lange halten wir es in diesem Eiskübel nicht aus, doch die kurze Erfrischung weckt unsere Lebensgeister. Anschliessend legen wir uns zum Trocken ins Gras und geniessen den behaglichen Fleck, den wir ganz für uns alleine haben. Kein Weg führt am Grundstück vorbei, keiner stört die Zweisamkeit – es sei denn, jemand verirrt sich. Nur ein paar tierische Geschöpfe leisten uns Gesellschaft: Schmetterlinge flattern scheinbar ziellos umher, und niedliche Eidechsen huschen über die aufgeheizten Steinplatten.
Monte Bar – in den Luganer Voralpen
Die Tage verstreichen und beginnen ineinander zu verschmelzen. Heute schlafen wir für einmal nicht aus und stecken bereits um halb acht im Morgenverkehr. Wir brausen Richtung Süden und zweigen vor Lugano nach Tesserete ab. Über eine kurvenreiche Strasse gelangen wir nach Corticiasca auf rund 1000 Höhenmetern. Der kleine Ort schmiegt sich an die Südhänge des Val Colla. Unser heutiges Wanderziel ist der Monte Bar, der sich in den Luganer Voralpen zwischen dem Val Colla und dem Val d‘Isone erhebt. Durch steile Gassen queren wir Corticiasca, Hunde bellen aufgeregt. Der Wanderweg zieht sich über Alpweiden bergwärts und taucht daraufhin in kühlen Wald, bevor es wieder schattenlos weiter geht. Inzwischen knallt uns die Morgensonne ins Gesicht, es ist anstrengend, und rasch baden wir im eigenen Saft. Plötzlich gerät die Capanna Monte Bar in Sicht, eine SAC-Berghütte inmitten gelbgrünen Bergwiesen. Der Gipfel ist nicht mehr fern; die letzte Etappe zieht sich allerdings in die Länge wie ein zäher Kaugummi.
Geschafft. Endlich erlangen wir das Gipfelkreuz – 800 Höhenmeter liegen hinter uns. Eine Weile verschnaufen wir auf dem flachen Buckel auf 1816 Metern. Keine Menschenseele ist da, nur wir und ein launiger Wind. Rundherum erstrecken sich Gebirgsketten, teilweise von Wolken umschwärmt. Erneut präsentieren sich die beiden grossen Tessiner Seen, nur sind wir dieses Mal dem Luganersee näher wie dem Lago Maggiore. Dann strolchen wir hinab zum Sattel und nochmals bergan auf den Nachbarberg, den Caval Drossa. Das ist jene Bergkuppe, die wir vom Rustico erspähen, allerdings von der anderen Seite. Oben angekommen fischen wir das Picknick aus dem Rucksack und besänftigen unsere knurrenden Bäuche. Wie friedlich es ist, abgesehen von gelegentlich durch die Luft hallende Gewehrschüsse des in Isone stationierten Militärs. Der Rückweg zieht eine weite Schleife, hinunter zur Aussichtskanzel Motto della Croce mit ihrem massiven Bergkreuz, das über Lugano wacht. Durch ein schattiges Waldstück und sonnigen Hängen entlang, endet unsere Rundwanderung nach insgesamt sechs Stunden. Ausgelaugt lasse ich mich auf den Autositz sinken und bin dankbar, setzt sich Roland ans Steuer.
Route: Corticiasca 1016 m – Pian Sotto 1173 m – Alpe Musgatina 1390 m – Capanna Monte Bar 1600 m – Monte Bar 1816 m – Caval Drossa 1632 m – Motto della Croce 1380 m – Tassera 1361 m – Corticiasca 1016 m
Auf einen weiteren Ruhetag folgt eine nächste Wanderung im Isonetal. Und schon ist er da, unser allerletzter Tag in Medeglia. Rechtzeitig greifen wir zu einem Bier und zelebrieren einen Sundowner, bevor sich der Sonnenball um halb sechs hinter die Bäume verabschiedet. Eichhörnchen wuseln in den Bäumen, leises Kuhgebimmel dringt in unsere Ohren. Während der gegenüberliegende Bergzug noch letzte Sonnenstrahlen abkriegt, entfacht Roland beherzt ein Feuer. Allmählich dunkelt es ein, Leckerbissen brutzeln auf dem Grill. Wie jeden Abend schnabulieren wir draussen am Gartentisch – die urgemütliche Stube mit Kamin blieb dank Wetterglück praktisch unbenutzt. Nach dem feinen Schmaus legen wir ein paar Holzscheite nach und hocken ans Feuer. Flammen lodern, es knistert, die rote Glut wärmt. Genüsslich nippen wir an einem Glas Rotwein und geniessen den himmlischen Naturfrieden unter leuchtenden Sternen. Gedanken kommen und gehen, glückselig blicken wir auf die erholsame Woche zurück.
Die Burgen von Bellinzona
Etwas Wehmut schwingt mit, als wir am nächsten Morgen unsere Siebensachen zusammenpacken und abreisen. Gleichzeitig wächst die Vorfreude auf das, was kommt. Noch zieht es uns nicht heimwärts, sondern ins Bleniotal. Da die Tessiner Wetterprognose weiterhin vielversprechend klang, haben wir vor wenigen Tagen ein nächstes Ferienhäuschen im Süden gebucht. In Bellinzona legen wir einen Zwischenhalt ein. Es ist Samstag, und in den beschaulichen Gassen der Altstadt findet ein grosser Markt statt. Menschenmassen wuseln durch die Häuserzeilen. Verführerische Essensdüfte wabern uns entgegen, italienische Sprachfetzen fliegen durch die Luft. Nach der Stille der Natur ist diese südländische Betriebsamkeit ganz ungewohnt.
Die Kantonshauptstadt ist von drei Burgen gekrönt, die wir allesamt anpeilen. Gemütlich spazieren wir durch den weitläufigen Aussenhof des Castelgrande und steigen anschliessend auf den weissen Turm: Vom Torre Bianca bietet sich ein 360-Grad-Blick über das Dächermeer von Bellinzona. Montebello, die zweite Burg, liegt auf dem gleichnamigen Hügel, etwa neunzig Meter über der Altstadt, und zieht uns am meisten in ihren Bann. Staunend bummeln wir über majestätische Zugbrücken und gucken auf das riesige Castelgrande hinab.
In der Mittagshitze trotten wir steil hinauf zur dritten Burg; der Puls schlägt höher. Sasso Corbaro wurde im Jahre 1479 errichtet und sitzt 230 Meter über dem Stadtkern. Der quadratische Innenhof ist von hohen Festungsmauern umschlossen, ein Turm reckt in den Himmel. Von oben ist Bellinzona keine Augenweide, der Reiz des Ausblicks liegt in den umliegenden Bergen und Tälern. Eine Kirchenuhr schlägt halb drei, die Stunden sind verflogen. Ciao ciao Bellinzona. Es ist höchste Zeit, uns auf den Weg ins Valle di Blenio zu machen…
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