Glarner Gipfelpaar: Rautispitz und Wiggis
Das zarte Vogelgezwitscher wird beinahe vom Kuhgebimmel verschluckt. Während die Wiederkäuer grasen und dabei ihre Glocken schütteln, fressen wir Höhenmeter. In Schleifen windet sich der Waldweg jäh bergan. Unser Wanderherz pocht rasch und Schweisstropfen perlen, trotz Schatten und Gemächlichkeit. Es gilt, die Kräfte für den langen Aufstieg einzuteilen: Noch sind über 1000 Meter Höhe zu erobern.
Es war noch stockdunkel, als wir uns in der Früh schläfrig aus dem Bett quälten. Um halb acht im Glarnerland angekommen, war der Herbstmorgen dann erwacht – und wir ebenfalls. Oberhalb Näfels bettet sich der Obersee auf 992 Metern malerisch in den Talkessel. Die Sonne beleuchtete erst die steil aufragenden Berge und die Alpenluft war noch empfindlich frisch. Als wir dem Uferweg entlang schlenderten, warf ein Fischer seine Rute aus. Eine wohltuende Stille umgab die lauschige Szenerie, allerdings entriss uns ein Wegweiser kurzerhand dieser Verträumtheit: Rautispitz 4 Stunden. Das gelbe Schild schickte uns unverzüglich den bewaldeten Berghang empor…
Inzwischen hat sich unser Tempo eingependelt und wir haben 400 Höhenmeter gemeistert. Auf der Grapplialp lotst uns ein steiler Pfad über eine Kuhweide, allmählich dem gewaltigen Felsmassiv des Rautispitz entgegen. Die himmelhohe Bergwand wirkt unbezwingbar und wir rätseln, wo die Route durchführen mag. Die Wegspur verschwindet wieder im Wald, und zwingt uns über glitschige Steine und Dreck. Volle Konzentration und Trittsicherheit ist gefordert. Wo möglich, krallen wir uns mit den Händen fest. „Kein schöner Weg“, jammert die Frau in knallroten Hosen, als wir das ältere Wanderpaar überholen. Weiter oben entschärft eine mit Stahlseilen gesicherte Passage das rutschige Unterfangen – auch wir sind erleichtert.
Rasch gewinnen wir an Höhe. Oberhalb der Waldgrenze liebkosen uns die ersten Sonnenstrahlen. Der Aufstieg im kühlen Schatten war angenehm, aber nun tut eine Verschnaufpause in der Wärme gut. Daraufhin balancieren wir gestärkt über felsdurchsetztes Karrengelände, stellenweise kraxeln wir auf allen Vieren. Das Gestein ist nun rau und griffig. Immer wieder schauen wir zurück und bewundern das aufregende Panorama. Die Bergspitzen auf der gegenüberliegenden Seite des Oberseetals sind markant, doch deren Namen sagen uns nichts: Brünnelistock, Rossalpelispitz und Zindlenspitz. Hingerissen geniessen wir den für uns neuen Flecken der Glarner Alpen.
Endlich erreichen wir den Gratrücken auf über 2000 Metern. Das Ziel nun in Augen, folgen wir beherzt dem sattgrünen Westgrat. In der Tiefe erspähen wir erstmals wieder den Obersee, wo unsere Wanderung ihren Lauf nahm. Das Oben der grasigen Kuppel kommt langsam näher, schliesslich erlangen wir das Gipfelkreuz des Rautispitz. Ein Glücksgefühl breitet sich in uns aus, auch die Mittagssonne strahlt. Auf 2283 Metern ist es erstaunlich mild, Wolken und Wind halten sich fern. Die Rundumsicht ist berauschend und reicht vom Walensee über die Churfirsten bis zum Säntis sowie tief ins Glarnerland bis zu den Tschingelhörnern. Sogar das Martinsloch ist als winziger Punkt auszumachen und erinnert uns an das fantastische Wanderwochenende vom vergangenen Jahr, wo wir den Segnespass bezwangen.
Auf dem Rautispitz verteilen sich einige Leute und picknicken, wir zögern das Mittagessen noch etwas hinaus. Mit den letzten Energiereserven nehmen wir den Wiggis unter die Sohlen – zwei auf einen Streich. Über den sanften Bergrücken steigen wir hinab zum Sattel, der rund 100 Meter tiefer liegt. Dort zweigt ein blau-weiss ausgeschilderter Bergweg ab, der die felsige Flanke des Wiggis quert. Der schmale Pfad ist etwas ausgesetzt und führt über loses Geröll. Der Blick in die Tiefe ist schwindelerregend. Mir ist mulmig, die Felswand fällt beinahe senkrecht ins Glarner Haupttal hinunter. Gewaltig ragt die Kulisse von Rautispitz und Wiggis über Netstal empor: Die Bergwände sind über 1800 Meter hoch.
Blicken wir zum Rautispitz zurück, offenbart uns der Berg plötzlich seine zwei Seiten. Über den lieblichen Grasrücken mit Alpenflora aufgestiegen, ist seine andere Seite schroff und abweisend. Das Gestein ist auffallend weiss und brüchig, stellenweise wie Schiefer. Das exponierte Gelände unbeschadet bewältigt, fordern uns die letzten Meter über einen steilen Wiesenhang heraus. Die Kräfte schwinden, der Magen ist leer.
Geschafft. Auf dem Wiggis weilen nur eine Handvoll Wanderlustige. Das Gipfelkreuz wacht auf 2282 Metern. Der Wiggis ist fast genauso hoch wie der Rautispitz, sein Zwillingsgipfel. Hungrig folgen wir dem Grat des Gebirgszugs, um ein ruhiges Plätzchen für die verdiente Mittagspause aufzuspüren. Inzwischen hat sich der Klöntalersee in unser Blickfeld geschoben. Mit der Sonne im Rücken vertilgen wir die Köstlichkeiten aus dem Rucksack. Dabei gucken wir ergriffen Richtung Innerschweiz, wo sich ein unendliches Gipfelmeer ausbreitet. Ein Hochgenuss.
Die Bäuche zwar satt, aber noch längst nicht sattgesehen. Doch es ist bereits nachmittags um zwei. Schweren Herzens reissen wir uns los – es blüht uns noch ein langer Abstieg. Beim Sattel zurück, schlagen wir die Route durch das Hochtal der Rautialp ein. Stetig leicht bergab und manchmal geradeaus, schlängelt sich der Weg durch eine mit Karrenfels durchsetzte Wiesenlandschaft. Allein auf weiter Flur, erfreuen wir uns an der Harmonie der Natur; nur das Rauschen eines Windhauchs dringt hin und wieder in unsere Ohren. Die tiefstehende Septembersonne taucht die Alpenidylle in ein goldenes Licht.
Route: Obersee 992 m – Grapplialp 1359 m – Geisskappel 1727 m – Rautispitz 2283 m (4 h) – Sattel 2166 m – Wiggis 2282 m – Sattel 2166 m (1 h) – Rautialp 1647 m – Grapplialp 1359 m – Obersee (2.5 h)
Der Abstieg zieht sich zäh in die Länge. Bei den Rautihütten führt der Wanderweg in den herbstlichen Wald und steil runter, bis wir nach einer geraumen Weile bei der Grapplialp auf das erste Wegstück vom morgendlichen Aufstieg treffen. Meine Knie schlottern, die Füsse fühlen sich platt an. Endlich schimmert der Obersee verführerisch durch die Bäume und das ersehnte Unten rückt in greifbare Nähe. Jetzt am frühen Abend bevölkern Sonntagsausflügler das Ufer des Sees. Kinder planschen, Grillduft wabert durch die Luft. Das schmucke Berghotel am Ufer glänzt in der Abendsonne.
Ächzend ziehen wir die Schuhe aus. Wie gut das tut. In unseren Knochen stecken insgesamt 7.5 Wanderstunden, knapp 14 Kilometer und ein Auf und Ab von je 1400 Höhenmetern. Vom Muskelkater in den Beinen ahne ich noch nichts. Trotz den Strapazen war die Bergtour ein Volltreffer. Ausgelaugt, aber beflügelt, sind wir uns einig: Das Glarnerland birgt immer wieder neue Wunder.
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