Hoch hinaus in Engelberg
Mein Herz hämmert, das T-Shirt ist schweissnass. Durch blumige Alpwiesen schlängelt sich der steinige Pfad jäh bergan. Mit jedem Schritt kommen wir der Gletscherwelt des Titlis ein kleines Stück näher. Nur wenige Wanderer sind auf den Beinen. Es herrscht Bergfrieden pur, in unsere Ohren dringt lediglich das harmonische Glockengebimmel der Kühe. Die Morgensonne strahlt, wir ebenso. Zufrieden halten wir inne und geniessen die Kulisse aus Fels und Schnee. Weiter unten bettet sich der Trübsee malerisch in grünes Bergland. Unsere Blicke schweifen hinab ins Engelbergertal, dorthin, wo in der Früh alles begann…
Engelberg im Kanton Obwalden liegt in einem flachen Hochtal auf 1000 Metern Höhe, umgeben von Bergriesen. Morgens um acht ist der Parkplatz der Titlisbahn noch ziemlich leer – nicht verwunderlich, ist eine Bergfahrt erst ab halb neun möglich. Als es soweit ist, hüpfen wir in eine der Gondeln und meistern die erste Etappe in aller Gemütlichkeit. Oben auf 1800 Metern buckeln wir die Rucksäcke. Voller Elan schlagen wir den Panoramaweg ein und lassen das Familienparadies Trübsee hinter uns. Da wir uns in einem Skigebiet befinden, sind die Hänge entsprechend verbaut. Aber die Wunder der Natur lenken uns von Skiliftmasten und Schneekanonen ab.
Inzwischen hat sich unser Puls wieder beruhigt und wir schustern weiter. Je höher wir kommen, desto felsiger der Landstrich. Über losen Schotter gelangen wir schliesslich zur Seilbahnstation Stand auf 2400 Metern. Ab hier führt kein ausgeschilderter Wanderweg mehr weiter, stattdessen schweben wir bergan. Die weltbekannte Titlis Rotair schraubt sich hinauf, dem schneebedeckten Gipfel des Titlis entgegen. Die Felswände sind steil. Unter uns tun sich tiefe, zerfurchte Gletscherspalten auf. Während der fünfminütigen Fahrt dreht sich die Gondelkabine einmal um ihre eigene Achse – echt abgedreht. Der „Asiaten-Tumbler“ macht seinem Namen heute jedoch keine Ehre: Asiaten sind in Zeiten von Corona nur wenige anzutreffen. Normalerweise generieren asiatische Gruppentouristen angeblich rund 40 Prozent des Umsatzes.
Auf dem Titlis sehen wir es mit eigenen Augen: Man konzentriert sich hier vorwiegend auf ausländische Gäste. Alles ist in Englisch angeschrieben, in einem Fotostudio kann man sich gar in Tracht ablichten lassen. An Souvenirshops und Uhrenladen vorüber, steuern wir die Aussichtsterrasse an. Genau genommen befinden wir uns nicht auf dem eigentlichen Gipfel, sondern einem Nebengipfel, dem Klein Titlis, der auf 3020 Metern liegt. „Titlis Mountain – 10’000 feet“, prangt in fetten Buchstaben an der Bergstation. Wir stossen auf eine Touristenmeute und Fremdsprachen sind allgegenwärtig, aber wahrscheinlich handelt es sich nur um einen Bruchteil der sonst üblichen Besucher. „Das Wegbleiben der internationalen Sommergäste lässt sich nicht mit Touristen aus der Schweiz oder Europa kompensieren, das Umsatzniveau bewegt sich nur im Bereich von 25 Prozent der Vorjahre“, gab der Titlis-Chef kürzlich den Medien preis.
Der Schnee ist sulzig. Und geht es leicht bergab, auch rutschig. Obschon wir uns an solche winterliche Verhältnisse gewöhnt sind, packen wir sicherheitshalber die Wanderstöcke aus. Ein paar Inder klammern sich kreischend aneinander, und schon purzelt eine der Frauen in den weissen Matsch. Unser Ziel ist der Titlisgipfel – noch fehlen 200 Höhenmeter. Der Wanderweg ist nicht ausgeschildert, was angesichts der vielen Ausländer ohne jegliche Winter- und Bergerfahrung bestimmt sinnvoll ist.
Über Schnee und Geröll geht es jäh bergauf, langsam trotten wir voran. Die Luft ist dünn, das Atmen fällt merklich schwerer. Und dann ist es plötzlich geschafft. Glücklich stehen wir oben auf 3238 Metern, auf dem richtigen Gipfel des Titlis – umgeben von Schweizerdeutsch. Der Platz ist beschränkt, die Rundumsicht atemberaubend. Der Titlis ist der höchste Berg einer zwanzig Kilometer langen Gebirgskette der Urner Alpen. Hingerissen gucken wir auf zahlreiche Dreitausender, vom Herzen der Schweiz bis tief ins Berner Oberland.
Für das Mittagspicknick suchen wir ein ruhiges Plätzchen etwas talwärts. Inzwischen schieben sich immer wieder Wolkenschwaden vor die Sonne und in Windeseile fühlt es sich frisch an, trotz Hochsommer. Aber kein Wunder, befinden wir uns in hochalpinen Lagen, ja gar in winterlichem Schnee und Eis.
Zurück auf dem Klein Titlis nehmen wir den „Titlis Cliff Walk“ unter die Füsse. Die höchstgelegene Hängebrücke Europas spannt sich über einen 500 Meter in die Tiefe stürzenden Abhang. Für das luftige Erlebnis braucht es zwar keine Nerven wie Stahlseile, aber etwas Herzklopfen habe ich schon. Von der leicht wankenden Brücke bietet sich ein entzückender Blick auf den vorhin bezwungenen Titlisgipfel, der nun mit Wolken kämpft.
Danach statten wir der Gletschergrotte eine Stippvisite ab. „Im frostig-kalten Herzen des Titlis erlebst du ein blaues Wunder“, frohlockt die Tourismus-Broschüre. In der imposanten Höhle befinden wir uns bis zu zwanzig Meter tief unter der Oberfläche des Gletschers. Kristallklare Eisschichten umarmen uns von allen Seiten, schimmern in sanftem Blau. Vorsichtig tappen wir durch den spiegelglatten Eistunnel, wo die Temperatur knapp unter dem Gefrierpunkt liegt. Dem gigantischen Eisschrank entkommen, streben wir schlotternd der Aussichtsterrasse zu. Doch statt Sonnenschein und Aussicht empfängt uns nachmittags um vier nur noch dichter Nebel.
Zurück im Tal, ist der Hochsommer zurück. Die Nacht verbringen wir in einer familiären Pension in Engelberg. Dank verheissungsvoller Wetterprognose haben wir kurzfristig ein verlängertes Wochenende mit zwei Übernachtungen geplant, und sind den angesagten Hitzetagen im Flachland entflohen. An der mittelalterlichen Klosteranlage vorbei spazieren wir zur Dorfmitte und halten Ausschau nach einem einladenden Lokal, um den abendlichen Hunger zu bändigen.
Es ist das erste Mal, dass wir in Engelberg weilen; überhaupt kennen wir die gesamte Zentralschweiz kaum. Zumal das internationale Reisen infolge der auferlegten Corona-Massnahmen seit Monaten eingeschränkt bis unmöglich ist, stillen wir unsere Entdeckerlust mit fremden Ecken der Heimat. Oder wir schwelgen in Erinnerungen vergangener exotischer Abenteuer. Unsere „grosse Reise“ liegt inzwischen 29 Monate zurück – genau so lange, wie sie gedauert hat…
Die Morgensonne beleuchtet lediglich die Kuppen der umliegenden Bergwelt. Als die ersten Strahlen Engelberg aus dem Schattendasein holen, zeigt die Uhr schon viertel nach acht. Auf unserem heutigen Plan steht der Wissberg, ein weiterer Gipfel der Urner Alpen. Da die Höhendifferenz über 1600 Meter ausmacht, schummeln wir auch heute wieder und bewältigen die erste Etappe ohne Muskelkraft. In der kleinen Bergbahn finden nur acht Leute Platz. Während wir der Fürenalp über eine senkrechte Felswand am Seil entgegen baumeln, ertönen Alphornklänge aus der Ferne.
Die Fürenalp ist eine Hochterrasse auf 1850 Metern. Der Ausblick auf die sich aneinander reihenden Dreitausender ist grandios; aus dieser Perspektive wirkt der Titlis wuchtig. Es tummeln sich schon einige Menschen hier oben, doch als wir auf den blau-weissen Bergweg abbiegen, sind wir fast allein auf weiter Flur. Über blumige Alpwiesen und ausgetretene Kuhweiden geht es in grosszügigen Schleifen stetig bergwärts. Die Sonne scheint kräftig, rasch baden wir im eigenen Saft. Wiederkäuer weiden. Dumpfe Glockentöne mischen sich mit hellen Klängen, und auf der gegenüberliegenden Talseite rauschen Gletscherflüsse ins Tal. Die alpine Geräuschkulisse ist die reinste Wohltat.
Der Magen knurrt und wir gönnen uns eine Znünipause. Inzwischen bietet sich eine fabelhafte Sicht auf den Hahnen: ein markanter Berg, der über Engelberg wacht. Der bizarr geformte Gipfel erinnert aus diesem Blickwinkel tatsächlich an einen Hahnenkamm. Die kulinarische Stärkung und die reine Alpenluft tun gut, das Bimmeln der Schafe wirkt entspannend wie meditative Musik.
Die schmalen Wiesenwege gehen nun allmählich in steinige Pfade über. Im letzten Drittel sind wir meistens auf allen Vieren unterwegs. Loses Geröll und steile Felspassagen fordern unsere volle Konzentration. Immerhin ist der Fels rau und griffig, was uns das knifflige Kraxeln erleichtert. Ein paar Frühaufsteher kommen uns entgegen, und wir zwängen uns aneinander vorbei. „Abwärts ist schwieriger wie aufwärts“, schmunzelt eine Wanderin entmutigend.
Endlich ist das Oben auszumachen, das Gipfelkreuz zum Greifen nah. Wow! Den Gipfel auf 2627 Metern haben wir ganz für uns allein. Nach einem Gipfelkuss genehmigen wir uns einen Gipfelschnaps: ein Schluck Appenzeller. Unser Ritual, wenn wir einen Gipfel erwandert haben. Der 360-Grad-Ausblick über das hochalpine Panorama mit dem Gipfelmeer ist sensationell. Roland fotografiert und filmt, ich staune. Dann noch ein Selfie, bevor wir uns setzen und mit Wonne dem Bergfrieden hingeben.
Als wir genüsslich unsere Leckereien aus dem Rucksack schnabulieren, ist es um die gutmütige Stille plötzlich geschehen. Ein deutsches Dreiergespann trampelt in „unsere“ harmonische Gipfelstube wie rüsselnde Elefanten, die einen Porzellanladen stürmen. Anstatt demütig die Natur zu würdigen, quasseln sie in voller Lautstärke und hocken uns beinahe auf den Schoss, obwohl der Gipfel reichlich Platz bietet. Und das in Zeiten von Corona, wo etwas Abstandhalten sowieso anständig wäre.
Diese Rücksichtslosigkeit behagt uns nicht, bald machen wir uns aus dem Staub. Obendrein sind auch düstere Wolken aufgezogen. Die Kletterei talwärts heil überstanden, frönen wir nochmals einer Pause. Selig plumpsen wir ins Gras und geniessen die Einsamkeit. Uns gegenüber ragen die spitzen Bergzacken des Spannort auf, die erhaben im Schein der Nachmittagssonne stehen. Am stahlblauen Himmel sind nur noch vereinzelt Wolkenfetzen auszumachen – alles hat sich zum Guten gewendet.
Zurück auf der lebhaften Fürenalp schlecken wir ein Eis, und bummeln anschliessend über die grasgrüne Hochebene etwas ins Abseits. Noch einmal bewundern wir voller Ehrfurcht die majestätischen Dreitausender auf der gegenüberliegenden Talseite, wo Gletscher die Höhen zwischen Titlis und Spannort krönen. Die schroffen Bergflanken spiegeln sich reizvoll in klaren Wassertümpeln. Überwältigt nehmen wir Abschied von der gebirgigen Idylle. Gerne wären wir noch länger hier oben geblieben, doch vom Abwärtsgehen haben wir für heute genug und möchten die letzte Talfahrt um sechs nicht verpassen.
Am nächsten Morgen verabschieden wir uns auch vom Klosterdorf Engelberg. Weiter unten im Engelbergertal kurven wir von Wolfenschiessen nach Oberrickenbach. Auf Ausflügler warten hier zwei winzige Seilbahnen: das blaue und das rote Bähnli. Die blaue, nostalgisch anmutende Gondel bringt uns ruckzuck auf die Bannalp, wo wir die Wanderung auf den Chaiserstuel in Angriff nehmen.
Bald tut sich ein Blick auf den Bannalpsee auf, der etwas weiter unten auf 1600 Metern ruht, umschmeichelt von hohen Bergen. Steil aufwärts, stets der glühenden Sonne entgegen, an Alpwiesen vorüber, wo Kühe grasen. Es ist anstrengend und meine Beine fühlen sich schwer wie Blei an – die letzten beiden Wandertage sind nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Ich bin froh, als wir zwei Stunden später den angepeilten Berg der Urner Alpen erreichen.
Der Gipfel des Chaiserstuel ist ein riesiger, flacher Grasteppich, sozusagen ein Aussichtsplateau, das auf der Grenze der Kantone Nidwalden und Uri liegt. Die fantastische Rundsicht reicht vom Urnerland über das Glarnerland bis zum Vierwaldstättersee, dominiert von Stanserhorn, Pilatus und Rigi. Nach dem Picknicken würden wir am liebsten alle Viere von uns strecken und im weichen Gras dösen, aber am Himmel ballen sich bedrohlich dunkle Wolken, wie es der Wetterbericht prophezeite.
Beim Aufstieg noch den frontalen Sonnenschein verflucht, präsentiert sich die Berglandschaft als Strafe jetzt glanzlos. Die Knie tun weh, endlich erreichen wir den Bannalpsee. Zum Abschluss umrunden wir den blaugrünen Stausee und gondeln anschliessend mit dem roten Bähnli talwärts. Die Wolken mittlerweile rabenschwarz verfärbt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre nasse Fracht entladen…
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