Kängurus im Inselnorden
Die vergangene Tropennacht beschert uns einen lauen Morgen. Nach einem sonnigen Frühstück verabschiedet sich das Hochsommerwetter jedoch rasant. Schon bevor wir abfahrtbereit sind, plumpsen erste Tropfen vom Himmelszelt. Von Bridport steuern wir südwärts ins Inselinnere bis nach Launceston, der zweitgrössten Stadt Tasmaniens. Die sich in grünem Hügelland ausbreitende „Gartenstadt“ hüllt sich derzeit in ein graues Gewand. Es schüttet wie aus Eimern – getrost können wir im Supermarkt in aller Gemütsruhe den Einkaufswagen füllen. Das Navigationssystem kurz missverstanden, landen wir unbeabsichtigt inmitten der Altstadt. Durch die nassen Fensterscheiben lässt sich ein Augenschein auf die viktorianische Architektur der Häuserzeilen erhaschen, bevor wir dem Verkehrsgewusel wieder erfolgreich entkommen…
Das historische Longford weiter südlich liegt in ländlicher Beschaulichkeit. Dennoch ziehen wir ein behagliches Café einem Bummel vor, bevor wir uns bereits zu früher Nachmittagsstunde auf dem Campingplatz niederlassen. Auch am nächsten Morgen haben sich die Wolken noch nicht ausgeregnet – was fangen wir nur mit diesem trüben Tag an? Die Schönwetterperiode scheint endgültig vorbei zu sein, und die Prognosen versprechen so rasch keine Besserung. Halbherzig klappern wir in der Gegend ein paar geschichtsträchtige Dörfer ab. In eine warme Schicht gestülpt, die Kapuze tief im Gesicht, erkunden wir das winzige Ortszentrum vom denkmalgeschützten Evandale. Den Regenschirm haben wir umgehend ins Vehikel zurückgelegt, er hielt den kraftvollen Windstössen nicht Stand. Auch in Westbury wandeln wir durch ruhige Strassen, bestaunen eine Handvoll altehrwürdiger Häuser. Die hübschen Bauten aus der Kolonialzeit beherbergen heute Kunstgewerbeläden oder Galerien, manchmal auch Museen. Oder eine einladende Kaffeestube. Magisch angezogen, ergeben wir uns ohne Zögern unseren kulinarischen Gelüsten…
In südlicher Ferne, hinter den am Autofenster vorbeiziehenden Wäldern und Schafweiden, ragt das Plateau der Great Western Tier auf. Doch bleierne Wolkenschwaden kriechen über die Abhänge und eine Bergsicht bleibt uns verborgen. Weiter im Westen in Deloraine, einem weiteren, stückweise im Kolonialstil erhaltenen Ort, beenden wir nachmittags unsere historische Spazierfahrt. Der Campingplatz ist in ein grünes Parkgelände am Fluss integriert, wo Schnabeltiere leben. In Australien Platypus genannt, hat das flachgedrückte und stromlinienförmige Tier gewisse Ähnlichkeiten mit einem Biber. Währenddessen wir eine heisse Tasse Tee schlürfen und versuchen, die sich allmählich in unseren Körper schleichende Kälte zu vertreiben, schweifen unsere Augenpaare immer wieder aus dem Wohnzimmerfenster über den düsteren Flusslauf. Die nachtaktiven Einzelgänger zeigen sich nur selten, und wenn, tauchen sie augenblicklich wieder unter. Draussen regnet es unaufhörlich, drinnen sinkt das Thermometer – die Ungemütlichkeit steigt. Das erste Mal in Tasmanien schlüpfe ich in langer Merinowäsche, Wollsocken und Mütze unter die Bettdecke.
Auch der neue Tag weint. Die Temperatur in unserem rollenden Daheim ist über Nacht unter zehn Grad gefallen. Das Aufstehen liegt jenseits der Spassgrenze. Schlotternd kramen wir den Heizlüfter hervor. Das mobile Gerät ist Gold wert – in weiser Voraussicht haben wir es dazugemietet. Nach einer Weile lullt uns Stubenwärme ein und wir beschliessen, einen Ruhetag einzulegen. „In den Bergen hat es nachts geschneit“, nuschelt die ältere Rezeptionistin kurzangebunden. Für die campingeigene Waschmaschine kann sie uns keine Münzen wechseln. „Fragt im Supermarkt im Dorf.“ Ihr mangelnder Geschäftssinn ist für uns unverständlich, doch mit ebensolchen Situationen waren wir in Australien bereits mehrmals konfrontiert… In einer Regenpause huschen wir ins Zentrum, das wir ziemlich verwaist vorfinden. In einem Ladenlokal Geld tauschen, wo wir nichts kaufen, machen wir nur ungern. Letztendlich spüren wir ein Café auf, dessen Türe auch am Sonntagnachmittag noch offen steht. Keine Selbstverständlichkeit in Down Under – ein gemütlicher Kaffeeplausch ist oftmals nur bis kurz nach der Mittagsstunde möglich.
Nach drei schauervollen Tagen liebkosen uns frühmorgens heiss ersehnte Sonnenstrahlen. Auf harmonischen Nebenstrassen, entlang grüner Wiesen und weiss blühender Mohnfelder, gondeln wir binnen einer Stunde an die Nordküste. Bereits auf der Fahrt hat sich der blaue Himmel verwandelt, die Küstengegend im Narawntapu Nationalpark präsentiert sich grau in grau. Hoffnungsvoll nehmen wir dennoch die geplante Wanderung unter die Sohlen. Erst durch ein Waldstück. Eng beieinander stehen stramm dünne Birken, deren Rinde sich wie Papier von den Stämmen schält. Pademelons, kleine rundliche Beuteltiere, fliehen blitzschnell ins Unterholz. Im Zickzack die Anhöhe des Archers Knob erklommen, bietet sich ein wundervolles, aber völlig farbloses Panorama. Felsige Buchten, Steilküsten, Buschland, Eukalyptuswälder und der Küstengebirgszug der Asbestos Range – ein vielseitiger Landschaftsmix, der gegenwärtig nicht zur Geltung kommt. Auch das Schneeweiss und Türkisblau des langgezogenen Bakers Beach ist spurlos verschwunden – das in unsere Köpfe eingebrannte Bild aus der Broschüre deckt sich leider nicht mit dem momentanen Anblick.
Weiter zur Copper Cove gestapft, eine mit bizarren Steinflächen bedeckten Bucht, begeben wir uns auf den Rückweg. Das Naturschutzgebiet eignet sich nicht nur zum Wandern, sondern auch hervorragend zur Wildtierbeobachtung. Ein Abstecher zum grünen Sumpfgebiet um eine Lagune, schenkt uns am späten Nachmittag überwältigende Begegnungen mit Kängurus. In Rudeln schlemmen sie durch das saftige Grün, stets sind etwa zwanzig Pflanzenfresser in unserem Blickfeld. Vorsichtig pirschen wir uns heran, um sie beim Futtern nicht zu erschrecken. Nicht so scheu wie ihre kleineren pummeligen Verwandten, hüpfen sie allerhöchstens wenige Sprünge weiter, federnd wie Gummibälle. Von den männlichen Riesen halten wir einen gebührenden Abstand – die Muskelpakete der Hinterbeine wirken kräftig, die langen Krallen messerscharf.
Nicht nur die hinteren Beine sind muskulös, sondern auch der behaarte Schwanz, der als Stütze oder zur Balance benutzt wird. Je nach Geschwindigkeitsbedürfnis kennen die Kängurus zwei Arten der Fortbewegung. Bei höherem Tempo springen sie nur mit den Hinterbeinen, schwungvoll wie auf einem Trampolin. Auf diese Weise können die grösseren Arten kurzzeitig eine effiziente Geschwindigkeit von 50 Stundenkilometern erreichen – die energiegeladenen Hüpfer sind bis knapp zehn Meter lang. Bei der langsamen Gangart setzen die vorwiegend dämmerungs- und nachtaktiven Tiere alle „fünf Gliedmassen“ ein. Während sie sich auf Vorderpfoten und Schwanz abstützen, schwingen ihre Hinterbeine – fast wie in Zeitlupe – nach vorne. Was Kängurus nicht können: Sich rückwärts fortbewegen.
Nach sieben Stunden in den Wandersocken treffen wir ausgelaugt auf dem friedlichen Campingplatz des Nationalparks ein, der sogar mit Strom und warmer Dusche aufwartet. Nicht nur wir, auch die Beuteltiere fühlen sich hier wohl – Kängurus, Wallabies und Pademelons mähen genüsslich das umliegende Grasland. Nur Wombats lassen sich nicht blicken, trauen sich wohl erst in der Dämmerung aus ihren Höhlenwohnungen. Plötzlich blinzelt Sonnenlicht durch das Wolkenreich und taucht die tierische Szenerie in ein mildes Abendlicht. Rolands Kamera läuft heiss, hingerissen nimmt er die grasenden Kängurus vor die Linse. Stets aufs Neue schlägt unser Herz Purzelbäume, wenn wir eine Mama mit einem knuffigen Jungtier in ihrer Bauchtasche spotten. Als sich die wenigen Campinggäste später in ihre Schlafstätten zurückgezogenen haben, dreht sich der Spiess. Die Kängurus wagen sich näher heran und beschnuppern unser Revier. Sie strecken und recken sich, gucken neugierig zu unserem Stubenfenster hoch. Wer beobachtet hier nun wen?
Unsere Weiterreise nimmt entlang der Nordküste ihren Lauf. In westlicher Richtung ist bald die Stadt Devonport erlangt. Das „Tor zu Tasmanien“ verbindet den Inselstaat mit Melbourne auf dem Festland. In rund zehn Stunden überwindet die Fähre die 250 Kilometer breite Bass Strait. Vom Leuchtturm des Mersey Bluff bietet sich infolge milchigen Wolkenfetzen nur ein schleierhafter Blick auf den weiteren Küstenverlauf. Unter uns tost die Brandung, laut schlagen Wassermassen an den schroffen Felsklippen auf.
Der kleine Ort Wynyard wird vom Table Cape überragt, dessen Wände jäh zum Meer hin abfallen. Auch an der Spitze dieses hohen Felsvorsprungs thront ein Leuchtturm und von schwindelerregenden Höhen eröffnen sich fantastische Aussichten. Die Mittagssonne brennt zwar mittlerweile heiss, im Schatten oder Windzug hingegen bleibt es empfindlich kühl. Deswegen ziehen wir ständig eine Kleiderschicht über, um sie oftmals einen Augenblick später schwitzend wieder abzustreifen. Die Sonneneinstrahlung in Australien ist extrem intensiv. Für ein Picknick parken wir unseren Campervan mit Küstenblick und profitieren im geschützten Esszimmer einerseits von Windschatten, andererseits von Sonnenschutz. Doppelt gemoppelt.
„Eine paradiesische Bucht mit blitzweissem Sand und türkisfarbenem Wasser – wie in der Karibik“, schwärmt unser Reiseführer. Das lassen wir uns nicht entgehen, gespannt schwenken wir von der Hauptroute zum Boat Harbour Beach ab. Der von Felsen umarmte Strand ist tatsächlich bezaubernd. Aber zumal die geschwungene Bucht doch ziemlich verbaut ist, erscheint uns der Vergleich mit einer karibischen Idylle doch etwas zu weit hergeholt. Der kleine Ferienort ist bei Tasmaniern äusserst beliebt, obwohl das verlockend aussehende Meer auch im Sommer in Eiseskälte verharre. Darauf vertrauen wir blind und verzichten freiwillig auf eine Kostprobe – oder für uns „Gfrörli“ besser gesagt auf eine Mutprobe!
Inzwischen über 150 Kilometer westwärts gepilgert, erreichen wir nachmittags Stanley im rauen Nordwesten. Das Fischerdorf liegt auf einem ins Meer hinausragenden Finger, im Schatten eines 150 Meter hohen Felsbrockens namens The Nut. Das markante Massiv aus Lavagestein war schon von weitem ein Blickfang. Der betonierte Fussweg auf den Felsrücken ist kurz, dafür umso steiler – der Aufstieg fühlt sich beinahe senkrecht an. Wer nicht mag, nimmt den Sessellift, der sich langsam in die Höhe hangelt. Ausser Atem auf „der Nuss“ angelangt, wandeln wir auf dem Rundwanderpfad in einer gemütlichen Stunde über das bewachsene Plateau. Aussichtsplattformen gewähren Perspektiven in jede Himmelsrichtung. Das touristische Stanley punktet mit einer spektakulären Lage – halbmondförmige Strände und Wasser in Blaunuancen umrahmen den Ort reizvoll.
Eine kleine Ansammlung liebevoll restaurierter Gebäude ziert das historische Zentrum. Die erste englische Siedlung im Nordwesten, im Jahre 1825 errichtet, diente vor wenigen Jahren als Filmkulisse. Die schräg einfallende Nachmittagssonne setzt den niedlichen Strassenzug optimal in Szene, mit schweren Beinen schlendern wir mit Wonne auf und ab. Vom langen Tag müde, lassen wir uns auf der Campinganlage gleich hinter dem Strand nieder. Eine Hecke versperrt zu unserem Leid die Meersicht, spendet dafür aber etwas Windschutz. Bald fällt der Schatten der Bäume auf unser Gärtchen. Obwohl der Sommerabend noch lange nicht zu Ende ist, frösteln wir im Handumdrehen. Doch nicht nur Antarktisluft plagt uns, sondern auch Heuschnupfen – mit schniefender Nase und juckenden Augen verziehen wir uns schleunig ins Schlafgemach.
Die tasmanische Nordwestspitze ist eine dichte, ungezähmte Wildnis mit nur kleinen Orten am oft wütenden Ozean. Röhrende Winde peitschen über das Land und halten die meisten Touristen fern. Die weiterführende Strecke entlang der Westküste ist zu grossen Teilen ungeteert, deshalb kurven wir auf derselben Route ein Stück nach Osten zurück, um dann durchs Landesinnere an die westliche Küste zu gelangen. Aber zuvor wenden wir uns dem Rocky Cape Nationalpark zu, rund 30 Kilometer von Stanley entfernt. Das kleine Naturschutzgebiet erhält nicht sehr viel Besuch und steht offenbar auch bei der Nationalparkbehörde nicht an oberster Stelle. Eine gute Übersichtskarte mit den möglichen Wanderoptionen finden wir hier leider nicht vor, auch sind die Wege nicht vollständig ausgeschildert. Manchmal liegen kaputte Wegweiser am Boden oder die sowieso schon schmalen Pfade sind überwachsen – es mangelt offensichtlich an Wartung. Einzig jene Schilder, die einem auf die Bezahlung der Nationalparkgebühr hinweisen, hängen unmissverständlich. Mit der Zuhilfenahme unseres Navi-Apps gehen wir schlussendlich jedoch nicht verloren…
Der Rocky Cape Nationalpark zeichnet sich durch einen zerfurchten Küstenabschnitt mit malerischen Klippen und Felsformationen aus, sowie seine vielfarbigen Wildblumen. Durch niedriges Buschland schustern wir erst sanft bergan, bevor wir auf einen steinigen Hügel schnauben, wo sich eine grandiose Aussicht auf eine halbmondförmig geschwungene Bucht bietet. Unser Blick gleitet über das in der Sonne hellblau schimmernde Wasser, bis zum klotzigen Felsen von Stanley in weiter Distanz. Durch struppige Wiesen stets auf und ab, piksen auf den engen Wegen stachlige Pflanzen in die Beine. Blüten in Weiss, Gelb und Rosa schmücken die grünen Höcker. Die Rundwanderung gewährt uns immer wieder neue Blickwinkel auf den attraktiven Küstenstrich. Wieder auf Ozeanhöhe verputzen wir in einer kleinen Bucht unsere belegten Brote. Vor unserer Nase erheben sich die Cathedral Rocks, eine verwitterte Felsansammlung in grauen und roten Farbtönen. Auch hier begegnen wir keiner Menschenseele. Nur wir, und die an den Felsen brechenden Wellen. In Zweisamkeit beflügelt, was die Naturkräfte in Jahrmillionen geschaffen haben.
Dieser Nationalpark wartet mit keinem Übernachtungsplatz auf, das Campen ist hier strikt verboten. In Folge dessen düsen wir am späteren Nachmittag noch bis nach Wynyard, weitere 30 Kilometer zurück. Der liebevoll am Wasser errichtete Campinggarten entzückt sogar mit berauschendem Meerblick. Die Abendsonne wärmt von aussen, der Rotwein von innen – beherzt stossen wir auf das wiedererlangte Wetterglück an!
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