Lemuren – in den Regenwäldern
Die Reise durch Madagaskar geht weiter – von Fianarantsoa im zentralen Hochland nach Nordosten. Es erwartet uns ein kurvenreicher Abstecher nach Ranomafana.
Die am Busfenster vorbeiziehende Umgebung ist sattgrün, die dicht mit Regenwald überzogenen Hügel muten wie Riesenbrokkoli an. In Ranomafana steigen wir für die nächsten beiden Nächte in einem einfachen Hotel mitten im Dorfzentrum ab. Die Bungalows sind schlicht, ein knappes Mückennetz überspannt das schmale Doppelbett. Der altersschwache Ventilator vermag die feuchtwarme Luft im aufgeheizten Zimmer kaum in Schwung zu bringen. Das Dorf Ranomafana und der gleichnamige Nationalpark liegen immerhin rund 1000 Meter über dem Meeresspiegel, und somit kühlt es nachts aufgrund der Höhenlage angenehm ab, sogar in unserem schwülen Schlafgemach.
Im Dschungel des Ranomafana Nationalparks
Als es um sechs Uhr eindunkelt, steht ein kurzer Nachtspaziergang im Nationalpark auf unserem Programm. Im Schein der Taschenlampe können wir einen Mausmaki beobachten. Nur mausgross sind die nachtaktiven Lemuren die kleinsten Primaten überhaupt. Den Tag verschlafen sie in Baumhöhlen und schlüpfen meist nur in der Dunkelheit aus ihren Verstecken. Ausserdem spürt der lokale Nationalparkführer nachtaktive Chamäleons auf, die wir allesamt schlicht übersehen würden. Das kleinste, das Zwergchamäleon, ist ein Winzling und misst nur 22 Millimeter.
Der kommende Morgen ist nebelverhangen, und es regnet. Das ist kein Wunder, sind wir hier im Regenwald. Der Ranomafana Nationalpark schützt ein Stück Bergregenwald der Ostküste, und die jährliche Regenmenge ist mit durchschnittlich 3000 mm beachtlich. Der tropfnasse Wald mutet mystisch an. Hinter dem Führer her stapfen wir durch das üppige Dickicht – steil bergan und ebenso steil wieder bergab. Wegen Blutegeln tragen wir lange Hosen, die Socken haben wir über die Hosenbeine gestülpt. Es nieselt und die Luftfeuchtigkeit ist hoch, unsere Kleider kleben auf der verschwitzten Haut. Die Wege sind mancherorts rutschig und die Dschungelwanderung ist anstrengend. Der unsympathische Guide spricht laut, nach meinem Gutdünken zu laut, ausserdem trübt das ständige Geplapper unserer Gruppe das Regenwald-Erlebnis.
Stets nach Lemuren Ausschau haltend, spotten wir schliesslich fünf der dreizehn hier vertretenen Arten, darunter auch zwei seltene: den Grossen Bambuslemur sowie den Goldenen Bambuslemur, der nur hier vorkommt und für den der Ranomafana Nationalpark berühmt ist. Bambuslemuren ernähren sich ihrem Namen entsprechend von proteinhaltigem Bambus, einer Pflanze, die für andere Tiere unverträglich ist. Manche fressen nur die Triebe, andere wiederum die Blätter, und der Grosse Bambuslemur holt sich mit seinem kräftigen Gebiss das Mark aus den Bambusstangen. Zu unserem Bedauern halten sich alle Lemuren weit oben in den Baumkronen auf und bleiben uns von blossem Auge mehrheitlich verborgen. Mit dem Fernglas können wir den besonderen Wesen etwas näherkommen, aber auch das ist aufgrund des dichten Waldes nicht ganz einfach. Somit erfreuen wir uns vorwiegend an den kleinen Dschungelbewohnern wie Giraffenkäfern, Fröschen oder gut getarnten Chamäleons. Morgens sind wir vier Stunden auf Pirsch und nachmittags nochmals zwei, trotzdem sind die Ausbeuten mager und wir etwas enttäuscht.
Ein neuer Tag beginnt. Es ist Sonntag. Die Kirche gegenüber unserem Hotel ist proppenvoll. Aus dem vollen Bauch des Gotteshauses erklingt lautstark froher Gesang, draussen tollt eine Kinderschar herum. Noch immer strömen Dorfbewohner in fein gebügelter Sonntagskleidung in Richtung Kirche; die Mädchen fallen besonders auf, sie tragen schneeweisse Röcke. Und wir, wir haben etwas „Freizeit“, was auf unserer Gruppenreise eher selten der Fall ist. Durch die Marktstrasse von Ranomafana schlendern wir zum Fluss hinab. Über das rauschende Gewässer spannt sich eine schiefe Holzbrücke, kräftige Männer wieseln mit schweren Bananenstauden auf den Schultern flink darüber. Nach der morgendlichen Erkundungstour zu zweit, besuchen wir mit den anderen und Reiseleiter Patrick anschliessend das Nationalparkzentrum, bevor wir uns mittags vom nach wie vor bewölkten Regenwaldgebiet verabschieden.
Auf Achse – unterwegs nach Ambositra
Die heutige Reiseetappe von Ranomafana bis nach Ambositra misst 150 Kilometer. Wie Patrick prophezeit hat, dauert die Fahrt rund fünfeinhalb Stunden, obschon wir auf einer der am besten ausgebauten Nationalstrassen des Landes unterwegs sind. Nach unzähligen Kurven auf der besagten „National 7“ zurück, ist auch die Sonne plötzlich wieder da und heizt wacker unseren Bus auf. Die schmale Fahrbahn windet sich wie eine graue Schlange durchs Land, die Schlaglöcher scheinen sich ständig zu vermehren, und die Strecke erinnert an einen Hindernisparcours. So manches klaffende Loch ist einige Meter weit, stellenweise fehlt der gesamte Asphalt für Hunderte von Metern. Viele Lastwagen rumpeln träge über das kaputte Teerband, was das Überholen schwierig gestaltet. Mamsu als Fahrer ist gefordert, Patrick als Beifahrer auch, ebenso unsere Geduld. Eine rotbraune Hügellandschaft zieht langsam vorbei, lehmfarbene Häuser bilden kleine Dörfer, die sich farblich kaum von der Umgebung abheben. Nicht zu übersehen ist allerdings das leuchtende Reisgrün in den Talsohlen, wo auf ansehnlichen Feldern das Grundnahrungsmittel der Madagassen grossflächig angebaut wird.
Ambositra ist eine Kleinstadt im Hochland, die auf 1350 Metern liegt, mit alten Backsteinhäusern aufwartet und vor Geschäftigkeit strotzt. Ein Laden reiht sich an den nächsten, zahlreiche Verkäufer flanieren durch die belebten Strassen. Auch ist Ambositra das Zentrum der Holzschnitzer – die Kunst der Holzschnitzerei hat hier Tradition. Anderntags besichtigen wir eine kleine Werkstatt, wo ein älterer Madagasse an einer einmaligen Handsäge sitzt. Es handelt sich um ein ausgeklügeltes Werkzeug mit einer Bettfeder, das er selbst konstruierte. Tagein tagaus werkelt er hier für ein paar Stunden und verdient mit seinen filigranen Kunstwerken seinen Lebensunterhalt.
Ein holpriger Abstecher bringt uns danach zu einer Seidenwerkstätte, wo uns auch dieses Handwerk nähergebracht wird. Frauen spinnen Wolle, färben sie teilweise ein und verweben diese in mühseliger Handarbeit zu weichen Seidenschals, was ihnen etwas Geld einbringt. Die Präsentation ist spannend, die Begegnung bereichernd, und wir alle kaufen im Anschluss an die Präsentation nach Herzenslust ein. Nach einem Mittagessen bei einer Familie abgelegen auf dem Land, geht die lange Fahrt heute bis Antsirabe weiter, wo wir übernachten. Inzwischen kennen wir diese Grossstadt im Hochland ganz gut, allerdings nur von der Durchfahrt: Auch das dritte Mal reicht die Zeit für einen Altstadtbummel leider nicht…
Indris – die grössten Lemuren bei Andasibe
Ein weiterer schrecklich langer Fahrtag… Auf wohlbekannter Strecke nordwärts, schwenken wir bei Tana von der „National 7“ auf die „National 2“ ab, die in Richtung regenreiche Ostküste führt. Die Strasse windet sich in engen Kurven hinab durch ein grünes Tal, eng und steil. Viel Schwerverkehr ist auf Achse – von der Hauptstadt Tana in die grösste Hafenstadt des Landes und umgekehrt. Die Lastwagen kriechen wie Schnecken daher, Überholen ist ein waghalsiges Manöver und kaum hat Mamsu es geschafft, muss er wegen einer nächsten „Schnecke“ schon wieder das Tempo drosseln. Der Staub von Baustellen und ungeteerten Passagen wirbelt in Wolken durch die Luft und nebelt Fussgänger und Fahrradlenker unbarmherzig ein. Ampeln und Staus verzögern unsere Ankunft in Andasibe, einem ländlichen Nest, wo unser Bus beinahe beidseits der Fahrbahn die Dächer der Verkaufstheken berührt – so eng ist die Dorfstrasse. Seit dem Aufbruch in Antsirabe sind elf Stunden verstrichen. Die Dämmung verschluckt soeben das letzte Licht des Tages, als wir endlich am Ziel landen. Die angepeilte Unterkunft bettet sich im Grünen harmonisch an einen Fluss.
Anderntags fahren wir nur wenige Kilometer, dann geht es zu Fuss auf Pirsch. Andasibe ist das Tor zum Regenwald, und wir besuchen den Analamazaotra Nationalpark. Das älteste Waldschutzgebiet auf durchschnittlich 1000 Metern Höhe ist der meistbesuchte Park in Madagaskar und wurde vor über hundert Jahren gegründet. Heute handelt es sich um Sekundärwald – die einstigen Urwaldriesen wurden längst abgeholzt. „Es stehen fast keine Autos auf dem Parkplatz“, bemerkt Patrick erfreut, „in der Hochsaison bleibt kaum eine Lücke frei.“ Uns ist es natürlich auch recht, wenn wir Wege und Tierwelt beinahe für uns allein haben. Der Nationalparkführer Tiana nimmt uns herzlich in Empfang, ebenso seine Assistentin Celiné. Und dann marschieren wir hinein in das Naturschutzgebiet, in das dichte Grün des moosigen Dschungels, in der Hoffnung, möglichst viele Lemuren zu spotten.
In dieser Region sind die seltenen Indris heimisch, die mit einer Körperhöhe von 80 Zentimetern grösste heute noch existierende Lemurenart. Zuerst entdeckt Tiana jedoch einen Braunen Bambuslemur, der sich leider viel zu gut im Dickicht verbirgt. Als nächstes spüren wir Diademsifakas auf, die zweitgrösste Lemurenart und eine der buntesten. Ihr langes Fell glänzt seidig, die Farbe reicht von weiss über grau bis schwarz, manche Partien sind gar von golden bis rotbraun gefärbt. Ein Männchen und ein Weibchen balgen zusammen auf dem weichen Waldboden. „Sie flirten“, klärt uns der sympathische Tiana mit seinem beeindruckend grossen Wissen in gut verständlichem Englisch auf. „Dass sie sich am Boden aufhalten, ist sehr selten und passiert nur zu dieser Jahreszeit.“ Hingerissen schauen wir den Verliebten zu, bis sie nach einer Weile turtelnd weiterziehen.
Quer durch das Dickicht pirschen auch wir weiter. Und dann ist es soweit. Es raschelt. Indris eilen durchs Geäst, sie fliegen fast von Baum zu Baum. Hoch oben in einer Astgabel erspähen wir eine Indri-Mutter mit einem Baby. Ich zücke das Fernglas und beobachte die beiden fasziniert, während Roland mit dem Teleobjektiv auf gute Fotos aus ist. Die beiden widmen sich der Fellpflege, ihr schwarz-weisses Pelzkleid schaut plüschig aus. Als einzige Lemuren sind die Indris nur mit einem Stummelschwanz ausgestattet. Plötzlich hallt ein seltsam klingender Gesang durch den Wald, fast etwas unheimlich. Indris „singen“ vor allem in den Morgenstunden, um ihr Territorium zu verteidigen, Familienmitglieder aufzuspüren oder einen Partner zur Paarung zu finden. Die gewaltigen Stimmen hört man kilometerweit und erinnern manche an Walgesänge. Als wir nachmittags noch einmal durch den Bergregenwald streifen, begegnen wir erneut einem Indri-Weibchen mit einem Jungtier. Das Kleine turnt voller Energie herum und schwingt sich behände von Ast zu Ast, um stets wieder zu seiner fressenden Mutter zurückzukehren. Die Indris ernähren sich hauptsächlich von schmackhaften Blättern.
Eine lustige Bekanntschaft machen wir mit Braunen Lemuren. Die Familie mit Nachwuchs hält sich in einer Waldlichtung auf dem Boden auf. Auch wir setzen uns hin, und mit einigen Metern Abstand beobachten wir einander. Auf einmal kommt einer der Lemuren in raschen Schritten näher und steuert geradewegs auf meinen Rucksack zu, den ich nebenan an einen Baum angelehnt habe. Die Banane, schiesst es mir blitzartig durch den Kopf. Und schon fragt Tiara schmunzelnd: „Hast du Esswaren da drin?“ Ertappt gebe ich zu, die Frühstücksbanane völlig vergessen zu haben. Lemuren gehören zu den Feuchtnasenprimaten, die so heissen, weil sie tatsächlich feuchte Nasen haben und deshalb ausgezeichnet riechen. Riechen ist für die pelzigen Geschöpfe der wichtigste Sinn, was ich damals noch nicht wusste. Mein Bananenduft beschert uns unverhofft eine Lemurenbegegnung aus nächster Nähe – alle sind mir dankbar und happy. Was für ein tierisches Spektakel.
Roland und ich machen uns zu Fuss auf den Weg zurück ins Hotel, während die anderen wie gewohnt in den Bus steigen, der uns auf dem Parkplatz erwartet. Obschon Roland immer noch unter Schmerzen im Knie und seinem kürzlich verstauchten Fuss leidet, tut etwas Bewegung und Freiheit gut. Beherzt schlendern wir durch Andasibe und schauen uns neugierig um. Ladentheken säumen die kopfsteingepflasterte Dorfstrasse, das kunterbunte Angebot ist vielversprechend, hier und dort kaufen wir ein: Mangos, Litschis und zwei Stück Kuchen, die die Marktfrau liebevoll in eine herausgerissene Seite eines beschriebenen Schulheftes einwickelt.
Am nächsten Tag kurven wir nach Tana zurück. Wie befürchtet ist der Verkehr wieder zähflüssig, und wir benötigen erneut fünf Stunden für 150 Kilometer. Nachmittags erwartet uns in der Hauptstadt die allerletzte Aktivität in der Gruppe: ein Schokoladen-Workshop. Zwei Frauen erläutern uns den Herstellungsprozess des Genussmittels – von der Kakaobohne bis zur fertigen Schokolade. Während draussen plötzlich ein tropischer Regenguss vom dunklen Himmel fällt, dürfen wir selbst Schokoladentafeln giessen und je nach Geschmack mit Zimt, Salz, Ingwer oder Nüssen verfeinern. Ein zuckersüsses Souvenir in der Tasche, steht uns heute Abend der Abschied der Truppe bevor.
Die dreiwöchige Gruppentour war abwechslungsreich und hat uns bestens gefallen, auch wenn wir es bevorzugt hätten, dass gewisse Reiseetappen weniger lang, dafür die gesamte Reise ein paar Tage länger wäre… Uns von den anderen zu verabschieden fällt uns leicht, obschon wir die meisten gut mögen, aber am Tisch oder in der Natur ging es uns manchmal zu laut zu und her. Auch freuen wir uns darauf, in der uns noch verbleibenden Woche wieder selbst den Takt anzugeben. Einzig beim Abschied von Patrick kommt Wehmut auf. Wir haben ihn als Tourguide sehr geschätzt, seine stets gelassene, warmherzige Art und das gut verständliche Englisch. Sein grosses Wissen über Land und Leute hat er liebend gerne mit uns geteilt, auch war er stets offen für Gespräche jeglicher Art. „Misaotra – herzlichen Dank!“
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