Oberwallis – Alpengipfel und Gletscherwelten
„Geniesst die Sonne“, schmunzelt der Seilbahnbegleiter, als wir auf der Bettmeralp ankommen. Ganz sympathisch, wie der ältere Walliser beim Verabschieden alle duzt, von der Sonne allerdings, fehlt jede Spur. Kurz vor der Bergstation schien es, als ende das Seil abrupt in dichtem Nebel, doch die Fahrt ging reibungslos weiter, aber die Gondel wurde wie in weisse Watte verpackt. Was für ein Spassvogel, denke ich, als ich in den Nebel hinaus trete. Inständig haben wir gehofft, über den Wolken zu landen und in alpiner Höhe heiteres Sommerwetter anzutreffen. Der Wetterbericht für das Oberwallis klang verheissungsvoll, zumindest vor ein paar Tagen, als wir in Fiesch ein Studio buchten. Daraufhin verschlechterte sich die Prognose von Tag zu Tag, und als wir heute in der Früh aus dem Fenster spähten, trübten graue Wolken den Morgenhimmel und unsere Wanderlaune…
Von der Bettmeralp zum Aletschgletscher
Auf der Bettmeralp ist es kühl und es nieselt. Ernüchtert steuern wir ins erste Restaurant und bestellen einen Kaffee. Als wir mit unseren Händen die dampfende Tasse umklammern, meint die freundliche Dame im Service voller Mitleid: „Was für ein Pech. Nebel ist hier oben eine Rarität.“ Nun müssen wir uns die Aussicht eben ausmalen. Als auch nach einer geraumen Weile buchstäblich keine Besserung in Sicht ist, machen wir uns vormittags um elf trotzdem auf den Weg. Das autofreie Feriendorf liegt hoch über dem Rhonetal auf knapp 2000 Metern. Zuversichtlich durchqueren wir den verwaisten Ortskern mit Läden und Hotels und ziehen am unsichtbaren Bettmersee vorüber. Vom Nebel umarmt, wandeln wir weiter, über Stock und Stein bergauf. „Immerhin hat es kaum Leute“, versuche ich Roland aufzuheitern. „Vielleicht siehst du sie einfach nicht“, brummt er daraufhin trocken. Wer weiss. Muhende Kühe zeichnen sich schliesslich auch erst kurz vor dem Kreuzen schemenhaft in der Nebelsuppe ab. Wenigstens säumen Enziane und Butterblumen aufmunternd den Pfad: wahrhaftige Farbtupfer am Wegesrand.
Als wir den spiegelglatten Blausee erlangen, schöpfen wir erneut Hoffnung. Am Himmel zeichnen sich erste Wolkenstrukturen ab, die Julisonne blinzelt vage dazwischen hervor. Doch ehe wir uns versehen, sind die Löcher im Nebel verschwunden und der Blausee nicht mehr blau. Die Alpenidylle ist sowieso beeinträchtigt, liegt der Weiher unmittelbar neben der Seilbahn-Mittelstation Moosfluh. Um nicht auskühlen, streben wir weiter bergan, bis wir auf dem luftigen Grat ankommen. Über die uns gegenüberliegenden Flanken der Berner Alpen kriechen Nebelschwaden und verschlucken sämtliche Gipfel. An einem etwas windgeschützten Plätzchen zücken wir hungrig unseren Proviant aus dem Rucksack. Lautlos fängt es leicht zu regnen an. Die Witterung gleicht launischem Aprilwetter. Versöhnend dringt hin und wieder wohliges Sonnenlicht durch einen Riss im Wolkenhimmel.
Weiter gehts, bis hinauf zur Moosfluh, die auch mit der Seilbahn erreichbar ist. Plötzlich schlägt unser Wanderherz höher, nicht nur der Anstrengung wegen. Ein gewaltiger Eisstrom prägt das Bild: der Grosse Aletschgletscher. Auch wenn die arktische Szenerie noch ziemlich grau in grau daherkommt, ist der Ausblick spektakulär. Das Eis ist von charakteristischen Moränenspuren gezeichnet, die abermals in Grautönen daherkommen. Mit einer Länge von zwanzig Kilometern ist der Aletschgletscher der längste und auch flächenmässig grösste Eisstrom der Alpen. Sein Gewicht wiege zehn Milliarden Tonnen – eine Zahl, die ich mir nicht im Geringsten vorstellen kann. Die Wissenschaft meint: Würde man den Eisriesen vollständig schmelzen, könnte jeder Erdenbürger über drei Jahre lang täglich mit einem Liter Wasser versorgt werden…
Über den Gratweg schweifen wir beeindruckt weiter, gelegentlich küsst uns liebevoll ein Sonnenstrahl. Durch Wiesen und niedriges Buschwerk kommen wir an malerischen Wassertümpeln vorbei – links im Blickfeld die Berner Alpen und rechts die Walliser Alpen auf der anderen Seite des Rhonetals. An der Verzweigung bei Biel nehmen wir einen Abstecher unter die Sohlen. In steilen Schleifen bergab, nähern wir uns dem mächtigen Aletschgletscher. Unten bei Chazulecher angekommen, gönnen wir uns eine Pause und Kalorien und geniessen den imposanten Gletscherblick. Die Uhr zeigt schon nachmittags um drei, und es ist Zeit, zum Grat zurückzukehren. Der Aufstieg ist kräftezehrend, die Beinmuskeln jammern. Inzwischen hat sich das Bettmerhorn aus den Wolken geschält, ehrfürchtig gucken wir hinauf zum fast 3000 Meter hohen Gipfel. Auf dem Rückweg zur Bettmeralp zeigt sich jetzt im Gegensatz zum Vormittag Landschaft…
Route: Betten Talstation 826 m – Bettmeralp 1950 m (Seilbahn) – Blausee 2205 m – Moosfluh 2333 m – Biel 2286 m – Chazulecher 2010 m – Biel – Bettmeralp – Betten Talstation (Seilbahn)
Atemberaubendes Eggishorn – ein Hochgenuss
Neuer Tag, neues Wetterglück? Aus der schwebenden Gondel werfen wir einen kritischen Blick bergwärts, wo sich die Fiescheralp in Wolken verbirgt. Die Einheimischen nennen den autofreien Ort auf dem meist sonnigen Aletschplateau „Kühboden“, da hier Kühe der Fiescher Bauern auf über 2000 Metern den Sommer verbringen. Wir jedoch wollen noch höher hinaus. Die erste Seilbahn aufs Eggishorn fährt erst um neun – erstaunlicherweise sind wir trotzdem nur zu fünft in der Kabine, was uns wiederum freut. Von der Bergstation auf knapp 3000 Metern lässt sich weder das Tal noch die Fiescheralp sehen, vor unserer Nase breitet sich ein blickdichter Wolkenvorhang aus. Allerdings bahnt sich die Sonne über unseren Köpfen einen Weg durch den wolkigen Himmel und erhellt unsere noch verhaltene Miene. Das Eis des Aletschgletschers hinter unserem Rücken glänzt, ebenso unsere Augen, als wir uns um die halbe Körperachse drehen. Die Luft ist kalt. Fröstelnd stülpe ich die Daunenjacke über, bevor wir durch Schneemassen tappen und vorsichtig über vereiste Stellen balancieren.
Über die winterliche Bergkulisse staunend und vertieft ins Fotografieren, realisieren wir vorerst nicht, dass eine nächste Bahnladung Ausflügler ausgespuckt wurde. Allmählich ist es mit der Stille der Natur vorbei, und wir nehmen das Wegstück bis zum eigentlichen Gipfel des Eggishorn in Angriff. Der mit Steinen befestigte Pfad ist gut zu meistern, mancherorts aber glitschig. Die Luft ist dünn und wir gehen langsam, um nicht völlig ausser Atem zu geraten. Oben angekommen, verschlägt es uns dann trotzdem die Puste. Der Rundumblick ist atemberaubend: der Himmel stahlblau und der Aletschgletscher eine Wucht. Wir sind überglücklich. Auf dem Alpengipfel ist es eng, und den beschränkten Platz teilen wir mit einer Handvoll Wandergesellen, die mir ständig in mein Filmchen plappern. Auf der Suche nach einer Portion Bergfrieden kraxeln wir ein paar Meter hinunter und spüren einen geeigneten Felsen für eine Znünipause auf.
Derweil wir heissen Tee aus dem Thermosbecher schlürfen, gleiten unsere Augenpaare über das Hochgebirge mit seinen Viertausendern. Ein Blickfang ist das Aletschhorn, das wie eine Pyramide erhaben in den blauen Himmel ragt, während seine Gipfelnachbarn in einem flauschig anmutenden Wolkenkleid stecken. Der Star ist jedoch der Aletschgletscher, der sich aus dieser Perspektive in voller Pracht offenbart. Sein Ursprung liegt in der Jungfrau-Region mit dem berühmten Gipfeltrio Eiger, Mönch und Jungfrau, wo er beim Konkordiaplatz beachtliche Eisdicken von bis zu 900 Metern aufweist. Der tiefgefrorene Gigant hat die Landschaft über Jahrtausende gestaltet und bedeckte während der letzten Eiszeit – vor etwa 18‘000 Jahren – noch den grössten Teil des heutigen Wandergebietes „Aletsch Arena“. Nur die Spitzen von Bettmerhorn und Eggishorn waren eisfrei und die Gletscherzunge leckte bis ins Rhonetal. Die globale Klimaerwärmung setzt dem Eismeer der Superlative gewaltig zu: Jedes Jahr schrumpft es bis zu 50 Meter in der Länge, besonders stark schmelzen seine Ränder ab.
Weiter zum Märjelensee – Alpenidylle am Gletscherrand
Nach dem Hochgenuss gondeln wir wieder talwärts, weil der verlockende Höhenweg zum Bettmerhorn leider noch geschlossen ist. Wegen Schnee oder Steinschlag ist auch der hochalpine Pfad hinab zum Gletscherrand nicht freigegeben, deshalb peilen wir den Märjelensee von der Fiescheralp aus an. Entlang buckliger Alpwiesen schustern wir auf einem Schottersträsschen stetig bergauf und picknicken mittags mit Blick auf Bellwald und den Fieschergletscher. Der graue Wolkenvorhang vom Vormittag ist zwar Geschichte und die Walliser Alpen strahlen, uns beschattet jedoch eine fiese Schwade. Vom Oberen Tälli führt der Weg nun in einen schummrigen Tunnel, der sich mit matschigem Boden über einen Kilometer durch das Bergmassiv bohrt. Endlich auf der anderen Seite die Freiheit wiedererlangt, blendet uns purer Sonnenschein.
Die weite Hochebene am Fusse des Eggishorn ist übersät mit Geröll, Schneefelder wechseln sich mit Wassertümpeln ab. In der unwirtlichen Schönheit spriessen genügsam gelbe Blumen. Leicht bergab einem rauschenden Gebirgsbach entlang, rücken wir dem Aletschgletscher auf die Pelle. Die karge Landschaft spiegelt sich reizvoll im glatten Märjelensee, bis ein Windhauch die Impression verwischt. Die Nachmittagssonne feuert, wir sind aus dem Häuschen. Kurzärmlig stehen wir in der Nähe des eiskalten Riesen und schwitzen. Tiefe Gletscherspalten tun sich vor uns auf. Woher kommen diese Risse eigentlich? Schuld sei der Reibungswiderstand am Grund und an den Seiten, der entsteht, wenn der Gletscher im Schneckentempo ins Tal hinabfliesst. Auch wir fühlen uns mittlerweile träge wie eine Schnecke, pausieren auf einem aufgewärmten Felsen und himmeln die Gletscherwelt aus dem steinharten Liegestuhl an.
Die meisten Zeitgenossen sind schon längst verschwunden, auch wir bummeln zurück zum Stausee beim Tunnelausgang. Weil sich auch der Vordersee wundervoll in Szene setzt, gönnen wir uns erneut ein Päuschen, sind die Hochsommertage schliesslich lang. Ausserdem fährt die Seilbahn von der Fiescheralp bis in die Nacht hinein ins Tal, und wir schätzen es ungemein, uns ohne Zeitdruck auf den Rückweg zu machen. Dank Wetterglück lassen wir uns sogar zu einem Umweg verleiten, anstatt nochmals durch den tristen Tunnel zu trotten. In Seelenruhe spazieren wir über gewellte Almwiesen, zufrieden hänge ich meinen Gedanken nach. Ein spitzes Pfeifen lässt uns aufhorchen: Murmeltieralarm. Ein braunes Fellknäuel richtet sich kerzengerade auf, bevor es flink in seinen Bau hechtet. Beim Aussichtspunkt am Tälligrat ergattern wir beflügelnde Tiefblicke zum Fieschergletscher, der sich in eleganten Bögen durch das schroffe Gebirge windet; im Hintergrund wacht das verschneite Finsteraarhorn. Der Panoramaweg lotst uns durch felsdurchsetzte Berghänge bis zum Unteren Tälli und letztendlich zurück zur Fiescheralp. Ein fantastischer Tag geht zu Ende. Dankbar saugen wir die letzten Strahlen der Abendsonne auf…
Route: Fiesch 1049 m – Fiescheralp 2212 m (Gondelbahn) – Eggishorn Bergstation 2869 m (Seilbahn) – Eggishorn Gipfel 2926 m – Eggishorn Bergstation – Fiescheralp (Seilbahn) – Oberes Tälli 2335 m – Vordersee 2360 m – Märjelensee 2302 m – Vordersee – Märjelewang 2346 m – Unteres Tälli 2147 m – Fiescheralp – Fiesch (Gondelbahn)
Mässersee – im wildromantischen Binntal
Der Wecker schrillt. Verschlafen quälen wir uns um sechs aus den Federn. Da für den Nachmittag Regen vorausgesagt ist, wollen wir beizeiten los. Mit dem Wetter hapert es allerdings noch. Wo bleibt sie nur, die versprochene Morgensonne? Unser heutiges Ziel ist das Binntal, ein Seitental der Rhone, das auf Höhe Fiesch Richtung Süden abzweigt. Die schmale Strasse windet sich wie eine Schlange an steilen Abhängen entlang. Dutzende Verkehrsspiegel machen in engen Kurven auf entgegenkommende Vehikel aufmerksam. Das abgelegene Binntal lebt hauptsächlich von Landwirtschaft und Tourismus. Hier und da ein friedlicher Weiler mit sonnengebräunten Häusern, ansonsten unberührte Landschaften, vom Tal bis hinauf ins Hochgebirge an der Grenze zu Italien. Das hintere Binntal wurde bereits 1964 unter Naturschutz gestellt, um seltene Pflanzen und Tiere am Leben zu erhalten. Bekannt ist das wildromantische Tal jedoch für seine Gesteinsvielfalt: Keine andere Gegend der Alpen ist derart reich an Mineralien.
Um acht Uhr kommen wir in Fäld an. Wir parken das Auto und schnüren die Wanderschuhe. Erste Sonnenstrahlen blinzeln gutmütig ins Tal, unser Herz macht einen Freudensprung. Im Schatten sitzt noch die Kühle der Nacht, und wir atmen frische Walliser Bergluft. Beschwingt meistern wir Höhenmeter um Höhenmeter, stiefeln über saftig grüne Matten, die allmählich in Waldabschnitte mit Nadelbäumen übergehen. Ein Gebirgsbach sprudelt ins Tal, Vögel zwitschern vergnügt ein Morgenkonzert. Alpenrosen säumen den Wegesrand, weisse Schleierwolken mischen das Himmelblau auf. Wir erreichen den Maniboden, eine weitläufige Hochebene, wo riesige Trümmer liegen, wie aus einem Sack ausgeleerte Bauklötze. Das letzte Wegstück hat es in sich und führt steil hinauf durch Arvenwald. Sind die Bäume licht, präsentieren sich die Berner Alpen mit dem unverkennbaren weissen Aletschhorn.
Und dann liegt er uns zu Füssen, der Mässersee. Nach knapp zwei Stunden haben wir unser Ziel auf über 2000 Metern erreicht. Der Mässersee in den Oberwalliser Alpen ist ein wahres Naturjuwel und liegt etwa an der Baumgrenze. Sein kristallklares Wasser spiegelt die umgebenden Tannen und Berge. Aufgekratzt strolchen wir ans andere Ende und bewundern das Gewässer aus verschiedenen Blickwinkeln. Im Bergsee leben keine Fische, dafür Kröten, die ihren Laich ins flache Wasser legen. Vorerst haben wir die alpine Idylle ganz für uns allein und schiessen einmal mehr viel zu viele Fotos. Sattsehen ist unmöglich, und wir machen es uns auf einen flachen Felsen am Ufer gemütlich. Schon um halb elf kramen wir den Mittagsproviant hervor und schnabulieren hungrig Brot, Wurst und Käse. Doch nicht nur die knurrenden Mägen geben den Tagesrhythmus vor, sondern auch die dunkle Wolkendecke, die sich von Westen her immer näher schiebt.
Inzwischen ist eine Handvoll Menschen angekommen, und wir sind in Aufbruchstimmung. An der Südseite des harmonischen Flecks steigt das Gelände steil an und wir erklimmen durch Gras und Geröll die Krete. Hingerissen werfen wir letzte Blicke hinab. Auch aus der Vogelperspektive ist der See eine Augenweide, Schneeberge ragen jetzt hinter dem Gewässer auf. Tschüss Mässersee – vielleicht kommen wir wieder. Beim Abstieg zum Maniboden ist stets ein hoher Wasserfall im Bild, der sich wagemutig über steiles Felsgelände stürzt und in einem reissenden Fluss weitertreibt. Längst hat uns die bedrohliche Wolkendecke eingeholt und von Sonnenschein können wir nur noch träumen. Noch eine kurze Pause, dann weiter talwärts. Erste Regentropfen plumpsen vom Himmel. Vom Maniboden schlagen wir eilig einen alternativen Rückweg ein, der uns via Mässerchäller durch Föhrenwälder jäh bergab zwingt. Knie und Füsse schmerzen, und ich bin froh, als wir endlich unten ankommen.
Trotz traurigem Regenwetter schauen wir uns Fäld an, ein winziges Dorf mit traditionellen Walliser Holzhäusern. Verträumt schmiegt sich der intakte Ort mit seinen niedlichen Wohnhäusern und Ställen in unverbaute Umgebung. Die dunklen Holzbauten werden mit viel Aufwand und Liebe gepflegt. In die Regenjacken gehüllt, schlendern wir auch noch durch Binn. Der Hauptort vom Binntal liegt auf rund 1400 Metern. Auch dieses Dorf ist beschaulich, über den rauschenden Fluss spannt sich eine steinerne Bogenbrücke aus dem Jahre 1564. Wiederum stehen dunkelbraune Holzhäuser dicht an dicht, und das historische Hotel Ofenhorn versprüht Nostalgie. Es wurde 1883 im Stil der Belle Epoque gebaut und empfing damals vorwiegend Gäste aus England. Uns empfängt nachmittags eine trockene Stube; müde stellen wir die nassen Schuhe in die Ecke und trinken Kaffee. Während der Nachmittag in den Abend übergeht, schüttet es draussen unaufhörlich.
Route: Fäld 1547 m – Maniboden 2026 m – Mässersee 2120 m – Maniboden – Mässerchäller 1884 m – Fäld
Von Ernen zur wankenden Goms Bridge
Auch am nächsten Tag spannt uns Petrus wieder auf die Folter, erst um acht verziehen sich die Wolken. Die Morgensonne wärmt, am blauen Himmel zeichnet sich scharf die Bergwelt ab. Vergnügt folgen wir dem Wanderwegweiser ins Nachbardorf Ernen, das gegenüber Fiesch erhöht auf der anderen Talseite liegt. Die grosse Pfarrkirche ist schon von weitem zu sehen, der Dorfkern versteckt sich dahinter. Die Rhone überquert, geht es über blumige Wiesen bergauf. Als wir Ernen erreichen, ist eine Stunde verstrichen und der ganze Himmel schon wieder bewölkt. Es ist Sonntag. Der Ort wirkt verschlafen, nur wir und gackernde Hühner scheinen auf den Beinen zu sein. Vielleicht sitzen die Dorfbewohner in der Kirche, ein Gottesdienst ist im Gange. Entspannt bummeln wir durch die verwinkelten Gassen und fühlen uns in eine andere Zeit versetzt…
Die dunklen Walliser Häuser wirken fast wie verbrannt, bunte Blumen setzen dekorative Farbakzente. Auffallend sind auch die Stadel und Speicher mit grossen Steinplatten, die den Mäusen den Zutritt zum eingelagerten Heu oder Korn verwehren. In vielen Dörfern im Bezirk Goms – wie sich der oberste Talabschnitt des Oberwallis nennt – wurde das ursprüngliche Ortsbild bewahrt. Angetan gelangen wir zum grossen Dorfplatz, der von herrschaftlichen Häusern aus dem 15. bis 18. Jahrhundert umrahmt ist. Aus dem Café am Eck duftet es verführerisch nach frischen Backwaren. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. „Trinken wir einen Kaffee?“ Sämtliche Tische im Freien warten auf Gäste, aber Roland schaut prüfend zum düsteren Himmelsdach und will ohne Koffeinschub weiter. Ich bin erstaunt, kann er einem Cappuccino und einem süssen Teilchen selten widerstehen.
Die Regenwolken im Nacken, gebe ich mich geschlagen, auch ist das Frühstück noch nicht lange her. Durch Wiesen und Felder erlangen wir Mühlebach, ein Nest, das an einem Steilhang klebt. Die Häuser sind ineinander verschachtelt und farbige Fensterläden entzücken; es sei der älteste Dorfkern der Schweiz in Holzbauweise. Am oberen Ende von Mühlebach thront eine Kapelle, wo wir uns auf einer Bank nebenan etwas ausruhen, bevor wir zur Goms Bridge hinunter spazieren. Die Hängebrücke ist für das Dörflein eine willkommene Abkürzung und birgt eine direkte Verbindung zum Bahnhof Fürgangen an der Linie der Matterhorn-Gotthard-Bahn.
Der Boden wankt, geradewegs blicken wir in schwindelerregende Tiefe. Knapp hundert Meter unter uns tost das Wildwasser der Rhone durch die Lamma-Schlucht. Bedächtig setze ich einen Fuss vor den nächsten, um die Hängebrücke nicht unnötig stark in Schwingung zu bringen. Doch vergebens, von der anderen Seite kommen Leute auf uns zu und bringen die wiegende Brücke aus dem Takt. Allerdings habe ich mir das fast dreihundert Meter lange Bauwerk wackeliger vorgestellt. Obendrein ist der Boden mit Holzplanken versehen und das Überqueren kein Nervenkitzel, wie es bei anderen Hängebrücken mit Metallgitter schon der Fall war. Die Goms Bridge ist auch verhältnismässig breit und taugt sogar für Rollstuhlfahrer oder Fussgänger mit Fahrrad.
Auf der anderen Talseite steuern wir am Bahnhof Fürgangen vorbei. Ein steiles Waldstück treibt uns schnurstracks in die Höhe, ebenso unseren Puls. Schnaubend die Gibelegg auf dem Bergrücken erlangt, öffnet der Himmel wie längst befürchtet seine Schleusen. Als es durch das Blätterdach tropft, haben wir die neun Kilometer lange Rundwanderung beinahe geschafft…
Route: Fiesch 1049 m – Ernen 1196 m – Mühlebach 1248 m – Hängebrücke „Goms Bridge“ – Fürgangen 1202 m – Gibelegg 1257 m – Fiesch
Über den Furkapass – Abstecher zum Rhonegletscher
Auch der letzte Morgen macht keine Ausnahme: Es ist wolkig. Frühzeitig packen wir unsere Siebensachen und verabschieden uns von Fiesch. Richtung Furkapass unterwegs, sprenkeln viele Walliser Holzhäuser das Goms. Nach der Ortschaft Gletsch jagt eine Haarnadelkurve die nächste, bis wir beim Hotel Bélvèdere auf 2272 Metern ankommen, wo man Ausblicke auf den Rhonegletscher erhaschen kann. Noch um das Jahr 1850 reichte der Eisstrom bis weit in den Talboden hinunter und war damals eine grosse Attraktion; heute ist er von der Passstrasse nur noch knapp sichtbar und das Hotel seit ein paar Jahren geschlossen. Eine Aussichtsplattform an der Gletscherzunge ist durch einen kurzen, kostenpflichtigen Fussweg erreichbar, auch gibt es eine Eisgrotte, die jedes Jahr neu in den Gletscher geschlagen wird.
Diese Touristenschleuse reizt uns nicht und wir nähern uns dem eisigen Spektakel auf dem Bergweg, der ein paar Meter weiter oben abzweigt. Rasch gewinnen wir an Höhe und eine gute Viertelstunde später bestaunen wir den Rhonegletscher einsam im felsigen Abseits. Das Bild ist fad: Die Farbtöne von Himmel, Fels, Gletscher und See sind kaum zu unterscheiden. Dafür verblüffen pinke Blümchen, die am Wegesrand aus dem steilen Geröllhang wuchern. Die heutzutage rund acht Kilometer lange Eispracht schwindet seit 150 Jahren kontinuierlich und Wissenschaftler vermuten, dass er Ende dieses Jahrhunderts verschwunden sein wird. Um das Abschmelzen hinauszuzögern wird das Gletscherende mit weissen Planen vor Sonneneinstrahlung geschützt, was das Landschaftsmotiv verschandelt. Ob es tatsächlich wirkt? Das haben wir uns letztes Jahr schon auf dem Titlis gefragt…
Die Furkapassstrasse verbindet die Kantone Wallis und Uri. Es fehlen nur noch wenige Kilometer bis zur 2429 Meter hohen Passhöhe, wo wir nochmals aus dem Auto hüpfen. Zum krönenden Abschluss von unseren Kurzferien im Wallis liebäugeln wir mit einer Wanderung auf den Tällistock. Ein strammer Wind bläst uns das Vorhaben schleunig aus dem Kopf, ausserdem peitscht uns Regen ins Gesicht. Das Panorama lassen wir uns hingegen nicht nehmen. Unsere Blicke schweifen über das Urserental, das Gotthardmassiv und die Walliser Alpen, wo bei guten Wetterverhältnissen das Matterhorn in der Ferne auszumachen wäre. Letzten Sommer verwöhnte uns das Mattertal mit purer Bergsonne, diesmal kochte die Wetterküche nicht ganz nach unserem Geschmack: Viel zu häufig haben es sich Wolken über uns gemütlich gemacht. Genossen haben wir es trotzdem – die Alpengipfel und Gletscherwelten sind überwältigend.
Eine tolle Tour, schöner Bericht und Bilder
Merci Tom
Herzlichen Dank Tomy. Auch unsere Heimat hat viel Schönes zu bieten. Wir lieben die Schweizer Bergwelt.
Liebe Grüsse Roland & Christine