Seelöwen auf der Otago Peninsula
Ein bissiger Wind weht uns entgegen, die spitzen Bergkuppen sind frisch gezuckert. In der Nacht suchten uns frostige Temperaturen heim – der Abschied von der reizvollen Region Queenstown fällt deshalb etwas leichter. Mit Kurs in Richtung Südosten lenken wir unseren fahrbaren Untersatz am weltweit südlichsten Weinanbaugebiet vorbei, der Küste entgegen. Ein eisblauer Fluss windet sich malerisch durch eine Schlucht – ein geschwungener Pinselstrich in der ansonsten kargen Felswelt. Als sich der enge Einschnitt weit öffnet, liegen die zuvor noch geschichteten Felsbrocken urplötzlich in der Gegend verstreut.
Vor uns entfaltet sich eine geschichtsträchtige Hügellandschaft. Wir schlendern durch Clyde, bewundern die entzückende alte Häuserzeile und versuchen uns in den Rausch der früheren Goldgräber hineinzuversetzen. Die meisten Boomtowns der 1860er-Jahre fristeten anfangs des 20. Jahrhunderts nur noch ein kümmerliches Dasein, einige hielten sich mit Obstanbau über Wasser. Weiter durch die Fruchtschale Neuseelands. Pfirsiche, Aprikosen, Erdbeeren und Äpfel – die saftige Ernte wird am Strassenrand feilgeboten.
Die Ostküste erlangt, die grosse Stadt Dunedin im Rücken, kurven wir der 35 Kilometer langen Otago Peninsula entlang. Die sich unmittelbar dem Ufer entlang windende, schmale Strasse ist fast doppelt so lang wie die Halbinsel selbst. Der die sanft geschwungene Hügellandschaft umgebende Ozean gewährt ein üppiges Nahrungsangebot und stellt ein wahres Paradies für Meeresbewohner dar. Es ist die Heimat von Seelöwen, Pelzrobben, Walen und Pinguinen, auch Albatrosse und andere Seevögel fühlen sich hier wohl. „Wo können wir auf eigene Faust wilde Tiere in freier Natur beobachten?“, fragen wir die redselige Dame des Campingplatzes am späten Nachmittag. Gewisse Winkel sind in Privatbesitz und gewähren nur Einblick im Rahmen einer geführten Tour.
Beinahe stolpern wir über einen dicken Seelöwen. Träge liegt er im Sand und wärmt sich sein dunkelbraunes Fell in der Abendsonne. Unbeirrt durch unsere Anwesenheit döst er seelenruhig weiter. Nur wenige Schritte nebenan wälzt sich ein helles, im Vergleich zierliches Exemplar. Doch auch das Weibchen ist schlaftrunken, vermag seine grossen schwarzen Kulleraugen kaum offen zu halten. Die hautnahe Begegnung ist eindrucksvoll und teilen wir nur mit einem weiteren Touristenpaar. Der Allans Beach scheint ein Geheimtipp und ist nicht nur der faulen Raubtiere wegen ein Besuch wert. Die untergehende Sonne taucht den weissen, von verwitterten Klippen eingerahmten Strand in hinreissend zarte Farbtöne. Vom Wind ausgekühlt kehren wir mit einem Strahlen auf den Campingplatz in Portobello zurück. Schleunig verdrücken wir uns in die gute Stube – das Thermometer knackte heute kaum die Zehn-Grad-Marke.
„Der Sommer ist wohl vorbei“, seufze ich am nächsten Morgen, als mein Atemhauch in einer feinen weissen Wolke aufsteigt. Kurve um Kurve schaffen wir uns an die Nordspitze der tierischen Halbinsel vor. Am Taiaroa Head fallen hohe Felsklippen senkrecht ins Meer ab. In der Ferne spotten wir eine Schule springender Delfine. Die Sonne im Nacken, trotzdem fühlt es sich wie an einem kalten Wintertag an. Unsere dicken Kleiderschichten kommen kaum gegen das antarktische Gebläse an… Auf der anderen Seite der Spitze ist am Pilots Beach eine Robbenkolonie daheim. Oberhalb der kleinen Sandbucht lungern einige Tiere im Gras, die wir jedoch nur von einer Aussichtsplattform mustern dürfen, um sie nicht zu stören. Ab und zu hebt eine Pelzrobbe ihren Kopf, schwenkt ihre Flossen oder humpelt zum Wasser. In der Abenddämmerung, wenn Zwergpinguine zu ihren Nestern zurückkehren, ist der Strand nicht mehr frei, sondern nur gegen eine Eintrittsgebühr zugänglich. Doch die Tierbeobachtung in der Masse sagt uns sowieso weniger zu…
Zurück und quer über die windgepeitschte Halbinsel. Über Farmland und weiche Sanddünen klettern wir gemächlich hinab zur Sandfly Bay. Wenigstens verschafft die Bucht ihrem Namen keine Ehre – vielleicht hält der wütende Wind die plagenden Sandfliegen fern. Immer wieder verharren wir, können uns an der wundervollen Aussicht kaum sattsehen. Die weissgelb geschwungenen Sandhügel treffen unten in der Bucht auf ein tiefblaues, von Schaumkronen geziertes Meer.
Gemütlich spazieren wir bei Ebbe dem kilometerlangen Strand entlang. Am Ende lümmeln ein paar Seelöwen im weissen Sand. Unser Herz hüpft vor Freude. Behutsam gehen wir auf die pelzigen Gesellen zu, halten jedoch den empfohlenen Sicherheitsabstand von mindestens zehn Metern ein. Gelegentlich lupfen sie für einen Moment ihren Kopf und wir gucken uns gegenseitig neugierig in die Augen – ein süsser Augenblick. Beim genauen Hinsehen entdecken wir noch weitere der massigen Meeressäuger. In den dunklen Felsen bestens getarnt, verraten sie sich erst mit einer Bewegung oder ihrem löwenartigen Gebrüll.
Lange beobachten wir einen putzigen Kerl, der sich genüsslich auf einem Felsbrocken räkelt. Sein nasses Fell glänzt. Immer wieder reckt er seinen Kopf in die Luft und wirft sich für den Fotografen in Pose. Na ja, wahrscheinlicher ist, dass er nicht uns, sondern die Sonne anbetet, denn er scheint uns nicht gross zu beachten. Mit seiner Schwanzflosse kämmt er sein Fell, leckt sich sorgfältig sauber und kratzt sich nebenbei stets am schroffen Gestein…
„Bei dem ist ein Besuch beim Zahnarzt fällig“, murmelt Roland und rümpft angeekelt seine Nase. Ein übler Mundgeruch wabert in unsere Richtung. Trotzdem weichen wir nicht von der Seite des mächtigen Bullen. Träge fläzt er im feinen Sand. Reisst er nicht gerade sein Maul weit auf und zeigt uns seine braunen Zähne, hält er an seinem Nickerchen fest. Mit den Flossen bewirft sich der dicke Brummer ab und zu mit Sand, bevor er sich nach einer Weile aufrafft und endlich seine volle Masse zur Schau stellt. Ein Männchen bringt mit einer maximalen Grösse von 2.5 Metern bis zu 400 Kilo auf die Waage. Der verhältnismässig kleine Kopf mit der kurzen Schnauze sitzt auf einem kräftigen Hals – mit seiner wuscheligen Mähne erinnert er an einen richtigen Löwen. Sich einem stinkigen Geschäft entledigt, macht er sich auf. Nach wenigen Hopsern landet er erschöpft auf seinem molligen Bauch, sein Kopf plumpst schwerfällig in den Sand. Das Spektakel wiederholt sich noch ein paarmal, bevor der walzenförmige Koloss in die tosenden Fluten gleitet. Unter seinem dichten Fell verbergen sich dicke Fettschichten, die ihn vor dem kalten Wasser schützen. Nun verschwindet er im weiten Ozean, wo er zwecks Nahrungssuche angeblich bis auf 400 Meter Tiefe abtaucht. Überwältigt bleiben wir zurück.
Erneut auf Achse. Nach zwei Tagen verlassen wir die Otago Peninsula, die uns tierisch gut gefallen hat. Quer durch Dunedin, vorbei an prachtvollen Bauten im viktorianischen Stil. Die Studentenstadt, einst von schottischen Einwanderern gegründet, wird gerne „Edinburgh des Südens“ genannt. Auf dem Highway No. 1 in Richtung Norden – flach, grün, geradeaus. Nach 80 Kilometern unterbricht das Fischerdorf Moeraki die Monotonie… Riesige Steinkugeln liegen verstreut am Strand, sind halbwegs im Sand versunken. Die Flut im Anzug, umspült Wasser neckisch die gigantischen Bälle. Die grauen runden Kugeln haben einen Durchmesser von bis zu zwei Metern. Ein paar zerbrochene Exemplare gewähren uns Einblick in ihr Inneres. Unter der rauen Oberfläche verbirgt sich ein wabenförmiger Kern, mit feinen Kristallen durchsetzt – verblüffend. Geologen zufolge sind die mysteriösen Moeraki Boulders vor Millionen Jahren durch vulkanische Aktivität entstanden.
Beim nahegelegenen Katiki Point thront ein weisser Leuchtturm, auf der felsigen Landspitze tummeln sich Seelöwen. Zu Dutzenden bevölkern sie die Klippen, sonnen sich am späten Nachmittag entspannt auf aufgewärmten Felsen. Ihre Jungen spielen quietschvergnügt im Wasser, necken sich gegenseitig und purzeln übereinander – ein amüsanter Kindergarten. Hier kommen wir voll auf unsere Kosten und entdecken immer wieder neue Sippen…
Sogar Gelbaugenpinguine! Nach einem harten Arbeitstag als Fischer auf See watscheln sie zu ihren Nestern zurück. Wir sind begeistert, auch wenn die drolligen Tiere für unser blosses Auge etwas weit entfernt sind. Ein Zaun liegt zwischen uns. Pinguine sind besonders scheu und zögern ans Ufer zu kommen, falls sie Menschen erblicken oder hören, selbst wenn sie Junge füttern müssen. Der stark bedrohte Gelbaugenpinguin ist die älteste noch lebende Pinguinart und findet sich nur im südlichen Neuseeland – insgesamt leben hier bloss noch etwa 4000 Tiere. Er entwickelte sich einst ohne Feinde, doch der Einfluss der Menschen und die Einführung von Possums und anderen Viechern hatten verheerende Auswirkungen. Die weissen Pinguine mit schwarzem Frack und hellgelben Streifen um ihren Kopf sind etwa 65 Zentimeter gross – sie sind somit die drittgrösste Art nach dem Kaiser- und dem Königspinguin.
Von der wunderbaren Natur beflügelt, nisten wir uns in der Nähe auf einem Campingplatz am Meer ein. Die Sonne steht schon tief am Horizont, als wir uns glücklich mit einem Gläschen Wein zuprosten und auf das gesichtete Wildlife anstossen. Wie die Seelöwen lassen auch wir uns die Abendsonne auf unseren Pelz, den Faserpelz, scheinen. Der neuseeländische Nachbar grüsst herzlich, ist zu einem kurzen Schwatz aufgelegt. Wie immer fällt das Thema bald auf das liebe Wetter. „Ich mag mich an keinen so kühlen Sommer erinnern“, klagt der im Süden der Südinsel lebende Kiwi, „und nun ist bereits der Herbst eingebrochen.“ Genau das haben wir befürchtet…
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