Tazara – buntes Zugabenteuer
“Kommt am Samstag um 10 Uhr, um das Zugticket zu kaufen”, wies uns der freundliche Herr am Bahnschalter vor zwei Tagen an. Gesagt getan. Mit gemischten Gefühlen steuern wir dem mächtigen Bahnhofsgebäude entgegen. Ob es mit unserer Reservation für das gewünschte Zugabteil wohl klappt? Wir sind etwas aufgeregt. Schon von weitem sehen wir eine Bahnhofshalle voll von Menschen. Oh weh, warten die bereits alle auf den Zug? Nein, mit unserem Verdacht liegen wir daneben, wir platzen mitten in ein Meeting. Der Ticketschalter ist geschlossen – wir warten, kein Grund zur Sorge, wir sind in Afrika…
Eine halbe Stunde später ist es soweit, der Holzverschlag des Schalters öffnet sich. Der nette Bahnbeamte von vorgestern kramt in seinem dicken Ordner nach unserer Reservation. Alles klappt wie am Schnürchen, lediglich im Zeitlupentempo – er teilt uns ein Schlafwagenabteil der ersten Klasse zu und verkauft uns die entsprechenden Fahrkarten. Lächelnd streckt er uns vier kleine Kartonbillette, wie wir sie von früher noch kennen, entgegen. Für jedes Bett ein Ticket… Die Abteile der ersten Klasse verfügen über vier Betten. Da es keine gemischten Schlafwagenabteile gibt, können wir als Paar nur zusammen reisen, wenn wir sozusagen für die ganze Kabine bezahlen.
Mittlerweile hat sich hinter uns eine Schlange gebildet, viele Leute drängen sich um den Bahnschalter. Die Abfahrt des Zuges ist für 18 Uhr vorausgesagt. Wir vergewissern uns noch einmal betreffend der Abfahrtszeit, denn gemäss Fahrplan müsste die Taraza früher, schon um 15 Uhr loslegen. Zu guter Letzt erkundigt sich Roland: “Ist der Zug pünktlich?” Hinter uns bricht ein Afrikaner in kicherndes Lachen aus, dem Bahnangestellten entlockt die Frage lediglich ein Schmunzeln.
Wir fahren zurück zum Hotel, packen und schlagen uns die Zeit um die Ohren. Als wir gegen Abend auf den Bahnhof zurückkehren, ist die Wartehalle bereits bevölkert. Zahlreiche Gepäckstücke stehen in Reih und Glied vor dem noch verschlossenen Ausgang zum Perron, die Menschen sitzen auf den Bänken und liegen am Boden. Aus der schwarzen Menge leuchten zwei weisse Gesichter. Und wie es der Zufall will, sind es Schweizer. Die beiden haben heute Morgen ohne vorgängige Reservation keine Zugbillette ergattern können. Ihre Freunde sind zwar bereits im Zug, der von Zambia her kommt, und halten Betten frei. Aber kommen sie ohne Fahrschein überhaupt auf den Bahnsteig? Sie wissen es nicht genau. Gerne bieten wir unsere Hilfe an, schliesslich sind wir glückliche Besitzer von vier Tickets…
Tazara ist die Abkürzung für Tanzania & Zambia Railways. Zweimal wöchentlich verkehrt ein Zug von Kapiri Mposhi (nahe der Hauptstadt Lusaka) in Zambia bis nach Dar es Salaam an die Küste von Tanzania und umgekehrt. Die Strecke zwischen den beiden Nachbarstaaten wurde in den siebziger Jahren für den Kupferproduzenten Zambia konzipiert, um die damals einzige vorhandene Exportroute über südafrikanische Häfen zu umgehen. Finanziert und durchgeführt wurde das Mammutprojekt von China, ein Meisterwerk fernöstlicher Ingenieurskunst. Die Tazara nahm ihren Betrieb 1976 auf – der Personenverkehr ist bis heute eher eine Randerscheinung der wirtschaftlich so wichtigen Verbindung.
Die Strecke misst 1860 Kilometer – Mbeya liegt etwa auf halber Strecke. Die gesamte Zugreise dauert ungefähr 45 Stunden, Verspätungen sind jedoch an der Tagesordnung und mit bis zu 24 Stunden völlig normal. Im Wechsel verkehren ein Express- sowie ein Ordinary-Zug. Der einzige Unterschied liegt an der Anzahl Stopps und somit ist man im Normalfall mit der Express-Variante ein paar Stunden schneller am Ziel. In den Zügen gibt es vier verschiedene Klassen – nebst der erwähnten ersten Klasse kann man sich auch in der zweiten Klasse in einem Sechser-Abteil betten, den beiden tieferen Klassen sind Sitzplätze vorbehalten.
Mittlerweile ist es kurz nach sechs – vom Zug fehlt noch jede Spur. Ein junger Angestellter kontrolliert die Tickets und meint euphorisch: “Die Tazara trifft gleich ein!” Gleich ist dann immerhin zwei Stunden später, was nur einer klitzekleinen Verspätung gleichkommt. Ehrlich gesagt, wir haben uns bereits auf eine Nacht in der Bahnhofshalle eingestellt und sind somit sogar positiv überrascht. Die Menschenmenge drängt sich dem Ausgang entgegen, stürmt auf das Perron. Wir beziehen unser Abteil. Es ist dunkel und die Beleuchtung im Zug schummerig, was vielleicht besser ist. Bald stellen wir fest, dass wir unsere Kabine doch teilen müssen. Es krabbelt, immer wieder kommen uns kleine Kakerlaken unter die Augen. Mit einem feuchten Lappen wische ich das Tischlein und die Betten etwas sauber. Das erste Mal auf dieser Reise bevorzugen wir es, in unsere Seidenschlafsäcke zu schlüpfen.
Zwei Stunden vergehen – dann ist es endlich soweit. Mit einem Ruck setzt sich der Zug stotternd, mit einer Verspätung von mittlerweile vier Stunden, in Bewegung. Unsere Zugreise beginnt mit einer Fahrt hinaus in die schwarze Nacht. Der Wagen schwankt extrem, wir müssen uns erst an das Schütteln gewöhnen. Das Stimmengewirr auf dem Gang ist laut, noch ist keine Ruhe eingekehrt. Wir legen uns trotzdem hin, fallen nach einer Weile in einen leichten Schlaf. Zwischendurch werde ich wachgerüttelt. Immer wieder hält der Zug kurz an, wir drohen vom Bett zu rollen. Plötzlich herrscht ein Kommen und Gehen, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Der Zwischenhalt zieht sich hin. Ein Blick auf die Uhr – es ist vier Uhr in der Früh. Der Muezzin ruft laut zum Morgengebet auf. Das Hupen des Zuges kündigt die Abfahrt an – der islamische Gesang wird übertönt.
Draussen wird es langsam hell, der Morgen begrüsst uns mit kitzelnden Sonnenstrahlen. Mir ist etwas mulmig zumute, was bestimmt dem Wanken des Zuges zu verdanken ist. Ein Kellner klopft an und nimmt unsere Bestellung entgegen. Das Frühstück wird uns ins Abteil serviert, Wir schmausen am offenen Fenster – ein angenehm kühler Fahrtwind streift durch meine Haare. Die grüne, hügelige Landschaft rollt langsam vorbei. Die Eisenbahn windet sich über unzählige Brücken und viele Tunnels durch ein tiefes Tal. Der lange Zug kommt zum Stehen, einmal mehr im Nirgendwo. Der Kilimanjaro Ordinary Train hält in jedem Kaff. Es sind oft kaum Häuser in Sichtweite, aber viele Menschen tummeln sich jeweils am Bahngleis – Passagiere, Angehörige, die ihre Liebsten verabschieden oder begrüssen, Verkäufer mit Getränken und Esswaren oder einfach nur Schaulustige. Wir strecken unsere Köpfe aus dem Fenster und verfolgen gespannt das bunte Treiben…
Die Kurven weichen einer geraden Strecke, der Zug schwingt sich jetzt mit seiner maximalen Geschwindigkeit von rund 60 Stundenkilometern über das Schienenbett. Dies lässt den Wagon auf und ab hüpfen, wie ein Gummiball. Manchmal fürchten wir, die Tazara springe aus ihren Schienen. Die Kabine ist trotz erster Klasse schäbig, der Zug ist alt und verlottert. Es gibt zwar Leselampen, Ventilator, Fensterladen und Türschloss, aber alles ist kaputt. Die Tazara hat zwar ihre besten Zeiten längst hinter sich, aber das Zugabenteuer ist garantiert. Unser Eisenbahnwagen ist nebst uns komplett afrikanisch – in anderen Wagen sind noch vereinzelt weitere Touristen untergebracht. Aus dem Frauenabteil links von uns dringt Gelächter, Männer im Abteil zu unserer rechten Seite vertreiben sich die Zeit mit einem Action-Film. Und wir machen es uns so bequem wie eben möglich, lassen den Blick durchs Fenster schweifen und die ländliche, abgeschiedene Gegend vorbeisausen.
Seit der Abfahrt in Mbeya auf 1700 Metern verliert der Zug stets an Höhe. Mittlerweile sind wir im Tiefland angelangt und es ist heiss und stickig im Abteil, auch der Fahrtwind vermag nicht mehr zu kühlen. Das Thermometer klettert auf 35 Grad, alles fühlt sich klebrig und wir uns verschwitzt an. Wir brausen am Fusse einer hohen Gebirgskette entlang, die Vegetation wuchert üppig. Die Gegend ist fruchtbar und mit Reisfeldern, Bananenplantagen, Mangobäumen und Kokospalmen gesegnet. Am nächsten Bahnhof werden vorallem grüne Kochbananen feilgeboten, farbig gekleidete Frauen balancieren riesige, schwere Stauden auf ihren Köpfen – ein prächtiges Farbenspiel.
Die ganze Zugstrecke führt durch eine spärlich besiedelte Gegend fernab grosser Städte – die Reise ist beschaulich. In den kleinen Dörfern scheint das Eintreffen der Tazara das Ereignis der Woche, die Haltestellen bevölkert. Oft gibt es weder Bahnsteige, noch ein richtiges Bahnhofsgebäude, nur ein Schild mit dem Ortsnamen. “Muzungu, muzungu”, rufen uns Kinder oft zu und winken, wenn sie uns Weisse aus dem Zugfenster gucken sehen. In den grösseren, wichtigeren Orten hält der Zug manchmal stundenlang, wir können aussteigen und uns die Beine vertreten. Viel Zeit, das afrikanische Geschehen auf uns wirken zu lassen. Roland versucht, mit seiner Kamera die bunten Szenen einzufangen…
Der Tag neigt sich dem Ende entgegen, es dunkelt ein. Gemäss Fahrplan hätten wir bereits in Dar es Salaam eintreffen sollen. Aber auf der Fahrt haben wir stets etwas Verspätung eingehandelt, sind also noch längst nicht am Ziel. Wie lange es jedoch noch dauert, weiss wohl keiner. Wir wünschen uns, noch eine weitere Nacht im Zug verbringen zu können, um nicht mitten in der Nacht in der Grossstadt einzutreffen. Schade ist, dass wir noch nicht im Selous Game Reserve angelangt sind. Über eine Länge von 100 Kilometern verläuft die Strecke durch das Wildreservat und bei Tageslicht besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, vom Zug aus Giraffen, Elefanten oder weiteres Wildlife zu spotten. Dies bleibt uns wegen der Verspätung leider vergönnt – wir sind enttäuscht.
In der Hoffnung, noch etwas Schlaf zu erhaschen, legen wir uns aufs Ohr. Aber bald werden wir unsanft aus den Träumen gerissen. Es ist Mitternacht. Die Zugbegleiterin kennt keine Gnade: “Give me blanket, give me pillow!” Unser gesamtes Bettzeug müssen wir abgeben, uns bleiben nur die harten Polster. Auf die Frage, wann wir ankommen, weiss sie angeblich keine Antwort. Um zwei Uhr nachts rattern wir im Bahnhof von Dar es Salaam ein. Kaum angekommen, ruft es hartnäckig durchs Fenster: “Taxi, you need Taxi? Hello, Taxi!” Genau das hat uns gerade noch gefehlt, diese sich aufdrängenden Fahrer, die stets eine solche Hektik verbreiten.
950 Kilometer liegen hinter uns – seit der Abfahrt sind 28 Stunden vergangen. Auf der Strecke hat die Tazara lediglich drei Stunden Verspätung eingefangen, hinzu kommen vier Stunden Warten in Mbeya und fahrplanmässig gesehen handelt es sich um zehn Verzugsstunden. Alles im grünen Bereich, und schneller als gedacht und uns schlussendlich lieb ist, nimmt das bunte Zugabenteuer ein Ende. Es hat sich gelohnt, da sind wir uns einig. Diese Farben, diese Gerüche, dieses Leben – Afrika pur.
Der Bahnhof liegt wenige Kilometer ausserhalb des Stadtzentrums. Wir freuen uns, bald in ein Bett fallen zu können, um in der zweiten Hälfte der Nacht nochmals kräftig Schlaf zu tanken. Aber Geduld ist gefragt. Obwohl uns der Fahrer versicherte, unser gewünschtes Hotel zu kennen, hat er offensichtlich keinen blassen Schimmer, wo es liegt. Wir irren durch die düsteren Strassenzüge, immer wieder fragt er eine der sich nachts herumtreibenden Gestalten, wo es lang geht. Langsam aber sicher sind wir völlig genervt und todmüde. Erst nach einer knappen Stunde schafft er es, uns in der besagten Unterkunft abzuliefern. Mittlerweile ist es vier Uhr – die verbleibende halbe Nacht müssen wir natürlich ganz bezahlen…
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