Tulparkul – zu Füssen des Pamirs
“Schau mal, schneebedeckte Berge!”, überrasche ich Roland beim Frühstück und zeige Richtung Süden. Es ist das erste Mal, dass wir vom Garten unseres Hostels in Osh hohe Gipfel des Alay-Gebirges ausmachen können – die Tage zuvor war es entweder dunstig oder bewölkt. Wir hoffen, das ist ein gutes Omen für die geplanten drei Tage im äussersten Süden Kirgistans. Auch der Wetterbericht verspricht nur Gutes…
Da wir leicht bepackt losreisen, fahren wir im städtischen Minibus zum besagten Taxistand. Hätten wir geahnt, wie schwierig es sich gestaltet, selbständig ein Sammeltaxi nach Sary-Mogol aufzutreiben, hätten wir uns vom Hostel mit einem Taxi hinbringen lassen. Nichts ist angeschrieben, die Verständigung schwierig, stets werden wir weitergereicht, ohne Erfolg. Endlich, eine junge Frau spricht Englisch und organisiert uns freundlicherweise ein Taxi, und erst noch zu einem unverschämt günstigen Preis. In einem Sammeltaxi hätten wir fast gleich viel bezahlt… “Wir fahren sofort los”, wirft der Fahrer ein. Unseren Vorstellungen entspricht sein “sofort” bei weitem nicht – erst wird auf dem Markt eingekauft, dann bei diversen Läden stadtauswärts den Kofferraum weiter gefüllt. Und nun lässt uns der Motor im Stich – das darf doch nicht wahr sein! Unser Chauffeur zaubert in aller Seelenruhe Werkzeug hervor und hämmert wild darauf los, mit Erfolg. Das Auto gerät aber unterwegs immer wieder arg ins Stottern – wenn das nur gut kommt. Nun muss noch Benzin getankt werden, vorsichtshalber bei laufendem Motor…
Endlich sind wir richtig auf Fahrt. Auf dem Pamir Highway nehmen wir Kurs in Richtung Süden. Die erste Etappe kennen wir bereits, entspricht der Anfahrt des durchnässten Trekking-Abenteuers. Die Strasse windet sich steil, hoch aufragenden Bergen entlang, eindrucksvoll durch eine malerische rote Landschaft aus Sandsteinfelsen. Vom Taldyk-Pass auf 3600 Metern führt die Strecke hinab ins Alay-Tal, wo wir nach knapp 200 Kilometern den Knotenpunkt Sary-Tash erreichen. Von hier führt der Pamir Highway in 45 Kilometern zur Grenze von Tadschikistan. Die legendäre Hochgebirgsroute zieht ausländische Rad-, Motorrad- und Autofahrer in ihren Bann – die Strasse ist streckenweise in einem schlechten Zustand und verbindet über eine Entfernung von 1250 Kilometer die kirgisische Stadt Osh mit der tadschikischen Hauptstadt Dushanbe. Der grosse Nachbar im Osten – China – ist nur noch 80 Kilometer entfernt. Wir aber bleiben im Land, biegen nach Westen ab, wo sich das Alay-Tal vor uns ausbreitet. Das trockene Hochgebirgstal auf durchschnittlich 3000 Metern Höhe ist hier rund 40 Kilometer breit. Das Panorama ist überwältigend – verschneite Bergketten begleiten uns beidseits der Strecke.
In Sary-Mogol bringt uns der Fahrer ungefragt ins Büro von CBT, doch das entspricht genau unseren Wünschen. CBT steht für „Community Based Tourism“ – das landesweite Netzwerk praktiziert nachhaltigen Tourismus mit Einbezug der lokalen Bevölkerung. An verschiedenen Standorten im ganzen Land vermittelt CBT private Gästehäuser, Übernachtungen in Jurten, Trekkingtouren und Fahrer. Abdilla, der Manager, organisiert uns innert Kürze die Weiterfahrt in einem Allradfahrzeug zum Tulparkul, einem Bergsee am Fusse des Pik Lenina gelegen. Die holprige Schotterpiste bringt uns dem hohen Gebirge 25 Kilometer näher. Nach insgesamt vier Stunden Fahrt erreichen wir wohlbehalten unser heutiges Ziel.
Ein kleines Jurtencamp liegt zwischen dem Tulparkul-See und weiss glänzenden Berggipfeln auf 3500 Metern Höhe – ein Postkartenidyll. Wir quartieren uns für die nächsten beiden Nächte im uns zugewiesenen runden Filzzelt ein, eines der drei Gästejurten. Der Betrieb wird von einer Familie gemanagt – die Verständigung gestaltet sich mangels Sprachkenntnissen einmal mehr harzig. Das Camp ist, wie hier üblich, einfach ausgestattet – Plumpsklo, keine Dusche, harte Matratze am Boden. Das Essen verspricht in Kirgistan keine Höhenflüge. Einmal mehr wird mit dem traditionellen Reisgericht Plov aufgefahren – obwohl die Fleischbrocken wie vorgekaut ausschauen, sind sie zäh durchzogen. Das staubtrockene Brot würde bei uns höchstens noch an die Enten verfüttert. Aber die wundervolle Lage und das Prachtswetter machen alles wieder wett!
Auch am nächsten Morgen ist das Wetter klar, keine Wolken stehen am stahlblauen Himmel. Die Sonne strahlt – wir auch. Wir brechen auf zu einer Wanderung weit hinein ins Tal. Der Weg führt nur leicht bergan, lässt uns wegen der dünnen Höhenluft aber schnell ausser Atem geraten. Stets ist ein leichtes Kopfweh im Anflug, erinnert uns daran, ausreichend zu trinken. Über saftige Wiesen mit bunten Blumenteppichen, entlang schmalen Pfaden steil abfallender Felswände, vorbei an Steinen und Geröll. Immer im Blickfeld die majestätische Bergkulisse mit den tief verschneiten, glänzenden Gipfeln. Keine Menschenseele weit und breit. Wir saugen die Geräuschkulisse der Natur in uns auf – unter uns rauscht der Fluss, Vögel zwitschern, Murmeltiere schlagen Alarm. Von allen Seiten ertönt ihr schrilles Pfeifen, flink verschwinden die grossen Munggen in ihre Löcher.
Die Sonne brennt steil vom Himmel, der Wind hingegen bläst eisig. An einem geschützten Fleck breiten wir unser Picknick aus, würdigen die atemberaubende Aussicht auf den vor uns liegenden Gletscher und den tief verschneiten Pik Lenina. Mit seiner stolzen Höhe von 7134 Metern stellt er den höchsten Gipfel der Pamir-Alay-Bergkette dar und liegt unmittelbar auf der Grenze Kirgistan – Tadschikistan. Wir befinden uns mittlerweile auf 3800 Metern Höhe, können kaum glauben, dass sich die Spitze vom Pik Lenina noch weitere 3000 Meter über uns befindet – seine Höhe ist aus der Nähe schlichtweg nicht einzuschätzen. Wenn wir uns zurückwenden, garantiert uns die Gebirgskette der Alay-Berge im Norden ein sagenhaftes Bild.
Spätnachmittags kehren wir ausgelaugt zurück, legen uns in die Wiese am Ufer des blau schimmernden Tulparkul. Der See ist klein und schmiegt sich verästelt an die grünen Grashügel – eine Augenweide, insbesondere von oben. Wir können unser Wetterglück kaum fassen, sind dankbar und glücklich, bis auf die lästigen Mücken, die uns in riesigen Schwärmen attackieren. Wenn sich die Sonne verabschiedet, sinken die Temperaturen in den Keller und wir hüllen uns in wärmende Schichten. Sobald es eindunkelt, verkriechen wir uns im Schlafsack, ziehen uns die Mütze tief über die Ohren. Die Jurte verfügt zwar über einen Ofen, wo abends eingefeuert wird. Schnell wird es glühend heiss im Raum, doch schon einige Stunden später hat sich die wohlige Wärme verabschiedet. Morgens wecken uns empfindlich kalte Temperaturen – in der Nacht herrschen draussen nur etwa fünf Grad.
Auch am dritten Tag lassen die Wetterverhältnisse keine Wünsche offen. Im Verlaufe des Morgens holt uns ein Fahrer wie ausgemacht ab, chauffiert uns zurück nach Osh. Am Steuer der Vater, auf dem Beifahrersitz der Sohn. Schnell heizt die Sonne das Auto auf, die Luft ist stickig, doch beide stecken noch immer in ihren Jacken, halten die Scheiben stur verschlossen. Wir schmoren auf der Rückbank, der Fahrtwind vermag durch die hinteren Fenster nicht angenehm kühlen. “Ist das heiss!”, jammert der englischsprechende Sohn nach Stunden bei einem Halt. Na ja, uns bleibt das Verhalten der beiden Kirgisen ein Rätsel und wir sehnen unser Ziel herbei.
Es ist wie ein Heimkommen, als wir zum dritten Mal unser Zimmer im Hostel in Osh beziehen. Alle kennen uns mittlerweile, begrüssen uns freundlich zurück. Nach drei Tagen himmeln wir die Dusche an, verwöhnen unsere Gaumen mit einem knackigen Salat und einer knusprigen Pizza. Was ist das? Es zittert und vibriert, doch als wir kapieren, was los ist, ist das schwache Erdbeben auch schon ausgestanden – trotzdem ein beklemmendes Gefühl. Wir gönnen uns einen Ruhetag und machen uns nach zusammengezählt neun Nächten in Osh auf die Weiterreise…
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