Verblüffend gefärbte Gletscherseen
Weiss getupfte Wiesen. Einmal mehr zieht Schafland an unserem Autofenster vorbei. Neuseeland zählt lediglich rund vier Millionen Einwohner, jedoch zehnmal mehr wollige Vierbeiner. Manchmal wird das Land als die grösste Farm der Welt betitelt – über die Hälfte der Gesamtfläche wird landwirtschaftlich genutzt. Doch nicht nur Schafe zupfen Gras, auch Rinder, Kühe und Rotwild vergnügen sich auf den Weiden. Ebenso wird das Kulturland für den Anbau von Obst, Gemüse und Korn genutzt… Das Waitaki Valley verläuft von der Ostküste ins Inselinnere. Die heutige Reiseetappe gestaltet sich topfeben und zum Gähnen monoton, zumindest bis sich nach einer Weile erste Erhebungen in unseren Blickwinkel schieben.
100 Kilometer landeinwärts, 400 Höhenmeter erklommen. Von den Touristen einmal abgesehen, ist Omarama ein verschlafenes Dorf, wo lediglich 300 Menschenseelen wohnen. Von hier führt eine unbefestigte Strasse zu den Clay Cliffs. Da diese sehenswerte Felsformation auf Privatland liegt, ist ein kleines Entgelt zu entrichten. Keiner kontrolliert, man wirft den Batzen in eine Box, oder eben nicht – einmal mehr wird auf Ehrlichkeit vertraut. Als Dank holpern wir über grobes Wellblech. Die übelste aller gefahrenen Staubpisten untermalt unser schlechtes Gewissen. Eigentlich verstossen wir gegen die Mietbedingungen und sind auf Schotter nicht versichert…
Erleichtert atmen wir auf, als endlich aus der Ebene eine imposante Kulisse auftaucht – die Clay Cliffs. Einst durch urzeitliche Gletscher entstanden, durch Jahrmillionen lange Erosion geformt, schichtet sich Lehm und Kies in hohen Felsnadeln. Die Ansammlung von bizarren Pfeilern und kantigen Graten sind durch enge, steile Schluchten voneinander getrennt. Langsam spazieren wir in brütendem Sonnenschein näher auf die kahle Mondlandschaft zu, die sich von sandfarbenen bis rötlichen Tönen vom blauen Himmel abhebt – ein perfekt inszeniertes Landschaftsbild.
Auf einen vorzüglichen Sommertag folgt ein lauer Abend. Wir schätzen es, einst wieder bis spät draussen sitzen zu können – die anderen Camper tun es uns gleich. Leider ist dieses Bild eine Rarität, denn wegen Wind und Kälte hocken alle Urlauber meist in ihren Wohnmobilen und die Campinglandschaft wirkt ausgestorben… Über Nacht nimmt das Wetterhoch ein jähes Ende. Es regnet, wie vom Wetterfrosch prophezeit. Kurzerhand beschliessen wir, einen Tag hier zu verweilen. Nutzen das Internet, welches nicht in jeder Inselecke selbstverständlich ist und planen die Weiterreise. Denn unser Ende in Neuseeland rollt bedrohlich näher – die Tage sind gezählt. Um unseren Augen eine Bildschirmpause zu gönnen und unsere knurrenden Bäuche zu besänftigen, verköstigen wir uns süss in einem Café – ansonsten bietet Omarama kaum mehr als Benzin und Souvenirs.
Grau und nass, auch am nächsten Morgen. Regengüsse begleiten uns ins 30 Kilometer entfernte Twizel. Der Ort ist Ausgangspunkt für die Gletscherwelt rund um den Mount Cook, doch die hohen Berge sind in dicke Wolkenmäntel eingepackt. Die Fahrt so kurz wie noch nie, sind wir bereits mittags auf einem ausserhalb gelegenen Campingplatz häuslich eingerichtet. Wir vertagen unser Vorhaben erneut, hoffen innig auf morgen… Aber der neue Tag macht uns wie befürchtet wieder einen dicken Strich durch unsere Pläne. Was nun? Niedergeschmettert schlendern wir im Nieselregen zum See, unser Blick schweift über graues Wasser. Es ist sinnlos weiterzufahren, das Wetter gemäss Prognose im ganzen Land betrübt. Das Thermometer klettert kaum über zehn Grad, in unserer isolationsschwachen Stube bleibt es dementsprechend kühl. Unser kleiner mobiler Heizlüfter erweist sich als Segen, verschafft uns immerhin für eine Weile etwas Behaglichkeit. Wir füttern unseren Reiseblog und schlürfen zwischendurch heissen Tee…
Frühmorgens. Die Scheiben sind beschlagen, Kondenswasser rinnt in feinen Bächlein herab. Immerhin ist es nur in unserem Schlafzimmer bedeckt. Nach drei Tagen trostloser Kühle kitzeln uns unverhofft schon beim Frühstück erste Sonnenstrahlen. Wie gut das tut, es fühlt sich an, wie aus einem graufeuchten Alptraum erwacht zu sein. Im Nu sind auch unsere Lebensgeister auf Trab, freuen sich ungemein auf den bevorstehenden Tag – den letzten in unserem fahrbaren Heim.
„Dieses Wasser, unglaublich!“, juble ich, „wie ein riesiger Farbtopf.“ Immer wieder lasse ich meiner Begeisterung freien Lauf, denn das intensiv leuchtende Türkis des Lake Pukaki ist wie von einer anderen Welt. Rolands Kamera läuft auch Hochtouren, er ist gleichermassen hin und weg. Auch die Sonne lacht, bloss über den Bergketten hängen noch zerzauste Nebelschwaden. Durch ein Loch im Wolkenvorhang lässt sich einen Augenschein auf die schneebedeckten Gipfel in der Ferne erhaschen. Eigentlich meinten wir, vom „Peter’s Lookout“ am südlichen Ende des Gletschersees bereits unsere Weiterfahrt anzutreten, doch die weissen Berge ziehen uns magisch an. Die Strasse lotst uns durch gelbliches Tussok-Grasland, unmittelbar dem verblüffend gefärbten Wasser entlang. Auf 520 Höhenmetern zieht es sich 30 Kilometer in die Länge. Immer wieder machen wir Halt zum Staunen. Das beeindruckende Hochgebirge rückt uns mittlerweile auf die Pelle, die Wolken hingegen sind abflugbereit.
Der 55 Kilometer lange Abstecher bringt uns letztendlich ins Mount Cook Village auf 760 Metern gelegen – eine winzige Siedlung am Fusse des gleichnamigen Berges, dem höchsten Neuseelands. Der Name wurde zu Ehren des grossen englischen Seefahrers verliehen, sein Gipfel 1894 erstmals bezwungen. Heute lautet der offizielle Name Aoraki/Mount Cook. In der Sprache der Maori bedeutet Aoraki: Der Berg, der durch die Wolken stösst. Der 3724 Meter hohe Gipfel sei jedoch an rund 240 Tagen pro Jahr in dichte Wolken vermummt. Dem Volk der Maori ist der Schneeriese heilig und Kletterer werden dazu angehalten, die eigentliche Bergspitze nicht zu betreten.
Hoch wollen wir keineswegs hinaus, aber leider bleibt uns nicht einmal Zeit, eine der einfacheren, kürzeren Wanderungen unter die juckenden Füsse zu nehmen. Doch wir murren nicht, danken dem gnädigen Petrus und würdigen mitsamt Hunderten anderen Touristen – überwiegend Asiaten – den überwältigenden Ausblick vom Dorf. Sprachlos stehen wir ehrfurchtsvoll vor der verschneiten Idylle. Ein Gletscher züngelt verzweigt den steilen Berghang herunter, schimmert eisblau. Der mächtige Mount Cook legt langsam seinen Wolkenschleier ab und setzt sich unverhüllt in Szene. Rasch knipst der Fotograf ein paar Bilder, flink machen wir uns aus der Meute – heute gehen wir es mangels Zeit asiatisch an.
Glücklich spulen wir zurück und sind uns einig – es hat sich gelohnt. Ein Picknick am knallig hellblauen See, ein letzter Blick in die gebirgige Pracht, und auf die Uhr. Weiter gehts. Fast kurvenlos steigt die Strecke über eine reizvolle trockene Hochebene leicht an. 50 Kilometer später glänzt auf 720 Höhenmetern bereits der nächste, ein etwas kleinerer Gletschersee – unser eigentliches Ziel. Am Wasser thront auf einem erhöhten Fundament eine winzige Kapelle aus grobem Stein, zum Gedenken an frühere Pioniere errichtet. Die „Church of the Good Sheperd“ ist DIE Sehenswürdigkeit von Tekapo, dessen Türe regelrecht eingerannt wird. Von einem grossen Fenster blicken die Gläubigen – und die Touristen – weit über den alpinen See und die sich dahinter ausbreitenden Berge.
Erst sichern wir uns am Ufer des Lake Tekapo ein Plätzchen auf dem Camping, bevor wir schleunig die Wanderschuhe schnüren und losmarschieren. Durch den Wald steigt ein schattiger Pfad in engen Schleifen bergan. Schnell gelangen wir in die Höhe, ebenso unser Puls. Von einer felsigen Kuppe, dem Gipfels des Mount John, gucken wir aus 1029 Metern rundum. Erneut eine verblüffende Farbe, ein tiefes Himmelblau. „Woher kommen nur die intensiven Farbschimmer der beiden Gewässer?“, wundern wir uns. Einst entstanden durch sich zurückziehende Gletscher, verdanken sie ihre Färbung – sofern die Sonne scheint – feinstem Steinpuder, der durch Schmelzwasser in die kalten Seen geschwemmt wird.
Goldgelbes Gras leuchtet im Kontrast zum kräftig gefärbten See, der sich in sanft geschwungene Gebirgszüge einbettet – ein Panorama wie gemalt. Der Wanderweg verläuft über einen langen, windgepeitschten Kamm hoch über dem himmlischen See, im Fernblick stets bis gegen 3000 Meter emporragenden Berge. Die Sonne steht schon tief am Horizont und taucht den malerischen Landstrich in ein zauberhaftes Licht. In einem weiten Bogen ziehen wir in Ufernähe zum Ausgangspunkt zurück und beschliessen die dreistündige stimmungsvolle Wanderung.
Am steinigen Ufer des Campingplatzes vermögen noch letzte Sonnenstrahlen über den Bergkamm blinzeln. Müde betten wir unsere Hintern in die groben Kiesel, bewundern das glasklare Wasser. Wir pressen einen letzten Schluck Rotwein aus einer grossen Tetra-Packung, öffnen eine Tüte Chips und stossen an – auf den wundervollen Tag, auf unsere vergangenen acht Wochen im Campervan und auf das hinreissende Neuseeland. Bestimmt schwingt etwas Wehmut mit, wenn wir uns morgen im über 200 Kilometer entfernten Christchurch von unserem mobilen Daheim verabschieden müssen. Noch lange nicht alles gesehen was lockt, könnten wir noch länger durch Neuseeland rollen. Wäre nicht oft ein ungemütliches Frösteln, das sich in uns breit macht, sobald die wärmende Sonne untergetaucht ist – wie soeben wieder geschehen…
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