Vom Inselnorden in die Bergwelt
Knackig grünes Zuckerrohr soweit das Auge reicht. Der Inselnorden ist ein flaches Gebiet, das sich in einem Dreieck oberhalb der Hauptstadt Port Louis und den umliegenden Berggipfeln erstreckt. Die Ebene im Landesinneren ist voller Zuckerrohrfelder, an der Küste reiht sich Bucht an Bucht.Der Norden gilt als touristische Hochburg von Mauritius und exklusive Hotelanlagen nehmen einen Grossteil der Strände ein. Allerdings finden sich abseits des Trubels nach wie vor ein paar unverbaute Flecken, zumindest bis heute. Unseren „Rucksack“ in den vergangenen drei Wochen mit unvergesslichen Erlebnissen und Impressionen gefüllt, nisten wir uns für die kommenden Tage in Mont Choisy im Nordwesten ein…
Cap Malheureux – an der Nordspitze
Was ist denn hier los? Verdutzt spähe ich aus dem Autofenster. Eine Fülle an geparkten Vehikeln verschlingt beinahe die weitum bekannte Kirche mit ihrem knallroten Dach. Heiterer Gesang strömt in voller Lautstärke aus der Nôtre Dame Auxiliatrice. Es ist Sonntag kurz nach zehn, ein Gottesdienst ist im Gange. Dass wir nach einer viertelstündigen Fahrt genau jetzt hier am Cap Malheureux eintrudeln, ist purer Zufall. Nicht nur das grosse, rote Dach der Kirche ist einzigartig, ebenso die Lage: Unmittelbar hinter dem Gotteshaus glänzt das türkisblaue Meer.
Die Nordspitze trägt den wenig schmeichelhaften Namen „Unglückskap“, da früher zahlreiche Schiffe an den gefürchteten Felsen und Korallenriffen kenterten. Heute ist das Kap ein friedvoller Fleck, der uns einen fantastischen Blick auf die vorgelagerte Inselwelt gewährt. Die Insel Coin de Mire ähnelt einem untergehenden Schiff: Der Sandsteinklotz steigt von der einen zur anderen Seite schräg an und fällt von seinem höchsten Punkt steil ins Meer ab. Das auffällig geformte Eiland ist ein Naturschutzgebiet und unbewohnt, abgesehen von Hasen, die dort keine natürlichen Feinde haben. Nicht nur in der Kirche ist etwas los, auch am naturbelassenen Uferabschnitt; Touristen mischen sich unter einheimische Sonntagsausflügler. Im Meer wiegen Boote sachte hin und her, an schlichten Ständen verkaufen Frauen Kunsthandwerk und Fische wechseln ihre Besitzer. Im seichten Wasser beten ein paar Hindus, die Kirchenmusik stört sie offenbar nicht. Verschiedene Religionen Tür an Tür – in Mauritius kein ungewohntes Bild.
Dem nördlichen Inselrand entlang…
Unsere Entdeckertour nimmt seinen Lauf. Nur wenige Kilometer ostwärts vertreten wir uns die Beine an der Anse la Raie, einer weiten Bucht. Das Türkis des Wassers ist milchig, am Ufer steht ein kleiner Hinduschrein. Essensdüfte wabern uns entgegen, am öffentlichen Strand picknicken Familien unter den Kasuarinen. Die nächste Bucht prägen schwarze Lavafelsen, ein Fischer wirft gerade seine Angelrute aus. Auch hier verteilen sich Familienclans im Schatten, Kinder planschen vergnügt im Indischen Ozean. Hungrig suchen auch wir ein schattiges Plätzchen und schnabulieren unsere mitgebrachten Sandwichs; Snacks oder Getränke werden hier nicht verkauft.
Die Strasse verlässt nun die zerklüftete Küste und zieht eine Schleife durch Dörfer und Zuckerrohrfelder. Nach wenigen Kilometern erreichen wir Grand Gaube, wo der touristische Ausbau des Nordens endet. Das Fischerdorf habe durch den Bau von Hotels etwas an Ursprünglichkeit eingebüsst, doch am öffentlichen Strand treffen wir ausschliesslich auf einheimisches Publikum. Unbeschwertes Kinderlachen erfüllt die Luft. Übermütige Knirpse springen jauchzend von Booten und klatschen kopfüber ins Wasser. Erwachsene plaudern im Schatten, und Roland versucht das sonntägliche Geschehen mit der Kamera einzufangen. In der Nähe folgen wir neugierig einem Wegweiser: Plage Butte a l‘Herbe. Durch einen weitläufigen Filaowald gelangen wir an verschiedene Sandbuchten. Vom einen Ende schallt Musik durch die Bäume. Dort geht es zu und her wie an einem Open-Air, es herrscht eine ausgelassene Zeltlager-Atmosphäre.
Morgen ist Allerheiligen, ein verlängertes Wochenende steht an. Die Party wird wahrscheinlich bis weit in die Nacht weitergehen, wir ziehen heimwärts. Am Cap Malheureux vorbei, westwärts der Küste entlang, gelangen wir nach Péreybère. Der Public Beach ist klein, die Parkplätze voll. Mit Glück ergattern wir eine Lücke für unser Mietauto und werfen einen Augenschein auf die geschützte Lagune: heute ein wuseliges Planschbecken. Auf der weiterführenden Küstenstrasse, dicht bebaut mit Ferienhäuschen, Villen und kleineren Hotels, gehört Meerblick der Vergangenheit an. Wegen anhaltendem Bauboom fällt es immer schwerer zu sagen, wo Péreybère aufhört und Grand Baie beginnt. Die tief ins Land reichende Bucht ist mit blauem Wasser gesegnet, die Umgebung aber völlig verbaut. Im lebhaften Ferienzentrum pulsiert ein Nachtleben, wie sonst nirgendwo, findet man hier Tanzlokale, Bars und eine grosse Auswahl an Restaurants. Die einen ziehts an, die anderen schreckts ab; nach einem kurzen Fotostopp lassen wir die „Côte d‘Azur“ von Mauritius links liegen.
Le Pouce – der daumenförmige Berggipfel
Halb sechs. Der Wecker schrillt. Draussen ist es schon taghell, wir wälzen uns aus den Federn. Bei einer Tasse Tee lauschen wir auf dem Balkon dem Morgenkonzert der Vögel, ihr Singsang erfüllt die morgendliche Stille. Ein stärkendes Frühstücksmüesli im Bauch, schnüren wir die Wanderschuhe und sind kurz vor sieben Uhr auf Achse. Strand und Berge liegen auf Mauritius nah beisammen. Südwärts durchs Inselinnere peilen wir das Dorf Moka an, das Ausgangspunkt für die Wanderung auf den Le Pouce ist. Der „Daumen“ ist Teil der Moka Range, die sich nun zu unserer Rechten erhebt und die Hauptstadt Port Louis halbkreisförmig umgibt. Wolkenschwaden ummanteln die Spitzen der Gebirgskette. Sind es gutmütige Morgenwolken, die sich bald auflösen werden? Oder erst kürzlich aufgezogene launische Schwaden? Ein Hinweisschild „to le Pouce“ lotst uns durch Quartierstrassen von Moka auf einen holprigen Feldweg, wo im Abseits der Wanderweg startet. Als wir parken, ist es halb acht, und die ersten Frühsportler kommen soeben vom Berg herunter.
Den Wanderrucksack geschultert, stiefeln wir los, erst entlang Zuckerrohrfelder, dann durch Wald. Der Boden ist matschig, die Steine glitschig, aufmerksam setzen wir einen Fuss vor den nächsten. Bald endet der steile Waldabschnitt auf einer Anhöhe, wo sich erste Weitblicke auf den Inselwesten eröffnen. Durch eine buschige Landschaft mit Guaven und Acacia-Gewächsen steigen wir weiter bergan, bis auf ein Plateau, wo vorwitzige Affen pausierende Wanderer belagern. Auch wir verschnaufen. Vor unserer Nase erhebt sich der saftig grüne „Daumen“, sein Wolkenkleid hat er erfreulicherweise von sich gestossen. Hinter unserem Rücken schieben sich das Häusermeer und der grosse Hafen von Port Louis ins Blickfeld. Der unwegsame Pfad verläuft nun auf dem Kamm steil himmelwärts, über felsige Passagen, wo wir Trittsicherheit und alle Viere benötigen.
Geschafft. Nach einer guten Stunde stehen wir auf dem daumenförmigen Gipfel. Der Rundumblick verschlägt uns die Sprache. Zu allen Seiten erspähen wir die Küstenebenen und das Meer, bizarre Berggipfel setzen neckische Akzente. Der Le Pouce ist mit seinen 812 Metern der dritthöchste Berg des Inselstaates. Etwas höher sind nur der nahegelegene Pieter Both, der auch zur Moka Range gehört, und der Black River Peak, der mit 828 Metern höchste Berg von Mauritius. Allein sind wir hier oben nicht. Der Le Pouce ist relativ einfach zu schaffen und somit ein beliebtes Wanderziel, obendrein ist heute Feiertag. Doch wir sind die einzigen Ausländer. Nach einer Weile haut mich eine Handvoll kichernder Girls an. Nach dem Posieren für etliche Selfies, möchten sie zusammen mit mir ein Foto schiessen. Die jungen Frauen kommen von der Ostküste und sind das erste Mal am Berg. Nach einem herzlichen Wortwechsel machen wir uns wieder auf die Sohlen. Die Novembersonne brennt inzwischen steil herab. Trotzdem treffen wir auf viele Spätaufsteher, die sich ächzend aufwärts kämpfen, während wir uns weiter unten nochmals eine aussichtsreiche Pause gönnen. Zufrieden mampfen wir Kalorien.
Kunterbuntes Strandleben in Mont Choisy
Mittags sind wir wieder zurück in unserem Daheim, dem Mon Choisy Beach Resort. Wie es der Name verrät, liegt das Hotel am Strand – genau genommen einen Katzensprung vom Mont Choisy Beach entfernt, an einem felsigen Küstenabschnitt. Wie gut es tut, wieder am Meer zu hausen. Die anheimelnden Zimmer sind mit einer praktischen Küchenzeile ausgestattet, und vom Balkon blicken wir in den üppigen Garten, wo eine trällernde Vogelwelt zuhause ist. Manchmal übertönt Verkehrslärm das harmonische Gezwitscher – viele Unterkünfte liegen in Mauritius unmittelbar an einer Verkehrsader, auch Luxusresorts. Vorne an der Küste finden wir stets erholsame Ruhe. Vom Swimming Pool beglückt uns ein weiter Meerblick, Palmen runden das exotische Ambiente ab. An vorderster Front legen wir uns müde auf Liegestühle im Sand und entspannen unsere strapazierten Beinmuskeln, bevor wir uns im Schwimmbecken abkühlen. Auf einen aktiven Morgen in der beflügelnden Bergwelt folgt ein fauler Nachmittag vor berauschender Meereskulisse – ein perfektes Tagesprogramm.
Am späten Nachmittag machen wir uns zu einem Strandspaziergang auf. Die Sonne steht schon tief und mogelt ihr mildes Licht durch Wolkenlücken. Die leicht geschwungene Bucht von Mont Choisy ist über zwei Kilometer lang, das Gehen im feinen Sand eine Wohltat für Füsse und Gemüt. Der Public Beach ist dicht gesäumt von einem breiten Streifen Kasuarinen, Hotels markieren das nördliche Ende. An einem Werktag ginge es wahrscheinlich ruhig zu und her, aber heute an Allerheiligen ist der Teufel los. Menschenmassen tummeln sich am Strand. Aus grossen Boxen dröhnt laute Musik, die in der kunterbunten Zeltstadt für Feststimmung sorgt. Mauritier lieben das Campen am Meer, veranstalten gerne ausgiebige Picknicks, auf den Grills brutzelt Fleisch. Im Wasser schwimmt Gross und Klein, Kinder buddeln im riesigen Sandkasten, Teenager werfen einander Bälle zu. Manche vergnügen sich halbnackt, andere schmoren in langen Kleidern oder verbergen ihr Haar gar unter einem Kopftuch. Hier und da lächelt Jung und Alt für ein Familienfoto in die Handykamera. Gebannt beobachten wir das quirlige Geschehen: Allerheiligen à la Mauritius.
Am nächsten Nachmittag ist die Himmelsdecke vollständig bewölkt, aber auch ohne Sonnenschein verspüren wir Lust auf einen „Sundowner“ am Strand. Im Vergleich zu gestern wirkt der Mont Choisy Beach ausgestorben. Voller Zuversicht setzen wir uns in den Sand, schlürfen ein kühles Bier und knabbern Chips. Plötzlich bildet sich wie von Zauberhand ein Riss in der Wolkenwand, und kurz vor Sonnenuntergang steigt die Stimmung. Der glühende Feuerball wirft sein abendliches Rot über das Wasser und es mutet an, wie wenn der Horizont in Flammen steht.
Von Trou aux Biches nach Triolet
Boote liegen beinahe reglos im glatten Wasser, das in einem samtigen Hellblau in der Morgensonne schimmert. Es ist halb neun. Unser Nachbarstrand Trou aux Biches ist noch im Halbschlaf, erst wenige Menschen sind auf den Beinen. Genüsslich saugen wir die friedliche Stimmung in uns auf und schlendern am Meer entlang. Der blendend helle Sand ist puderfein und erinnert an Weissmehl. Wassersportanbieter rüsten sich für ihre Kundschaft; bald schon flitzen Motorboote umher, Strandleben erwacht. Trou aux Biches ist sowohl bei Ausländern wie auch Einheimischen beliebt – touristische Infrastruktur prägt heute die ehemals verschlafene Ortschaft an der Nordostküste. Ein luxuriöses Resort nimmt einen grossen Teil des Strandes ein, unter Kokospalmen stehen zahlreiche Liegestühle für die Hotelgäste bereit. Echt hübsch, doch eine Nacht in diesem Luxustempel hätte uns 500 Franken aus der Geldbörse gesogen – genauso viel kostet unser jetziges Schlafgemach, allerdings für die gesamten fünf Nächte. Inzwischen hat die Tropensonne an Kraft gewonnen, und etwas abseits genehmigen wir uns ein Bad im salzigen Nass.
Von Trou aux Biches machen wir einen kurzen, kulturellen Abstecher nach Triolet im Hinterland. Im angeblich längsten Dorf der Insel finde echtes indisches Alltagsleben statt, weiss unser Reisehandbuch. Tatsächlich ist das farbenfrohe Gewusel gross und die geschäftige Hauptstrasse scheint kein Ende zu nehmen. Kein Wunder, dass sich hier die grösste hinduistische Tempelanlage des Landes befindet. Wegen Einbahnstrassen müssen wir den Shivalah Tempel erst einmal mit dem Auto umrunden, bevor wir zum Eingang gelangen, wo ein mächtiger Banyanbaum den Tempelbezirk bewacht. Die 1891 fertiggestellte Anlage besteht aus drei grösseren Gebäuden. Hingerissen stehen wir vor dem märchenhaften Haupttempel Maheswarnath Mandir, der in verschiedenen Farben aufwändig bemalt und verschwenderisch dekoriert ist. Shiva, Krishna, Ganesha und viele andere Götterstatuen verteilen sich auf dem heiligen Gelände, ehrfurchtsvoll blicken wir uns um. Ein paar Gläubige beten. Wenn sie ins Tempelinnere huschen, ziehen sie ihre Schuhe aus.
Da die Wurzeln der Bevölkerung in Asien, Afrika und Europa liegen, ist die Vielfalt an verschiedenen Gotteshäusern gross, ebenso die religiöse Toleranz. Moscheen stehen neben Kirchen, chinesische Pagoden neben Hindutempeln. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung sind indischer Abstammung. Deren Vorfahren kamen als Arbeiter auf die Zuckerrohrplantagen. Noch heute gehören viele der Arbeiterschicht an oder sind in der Landwirtschaft tätig. Die Kreolen stellen die zweitgrösste ethnische Gruppe dar: Die Nachfahren der afrikanischen Sklaven, durch deren Adern auch europäisches Blut fliesst, haben meist eine niedrige Bildung und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Fischen oder in unterbezahlten Jobs. Die reichen Nachkommen der weissen Siedler lenken die Finanzen des Landes, ihnen gehören noch immer zahlreiche Zuckerfabriken und grosse Unternehmen. Und die chinesische Gemeinschaft ist vor allem im Handel tätig. Das multikulturelle Mauritius ist erst seit 1968 unabhängig und stand vorher unter französischer und britischer Herrschaft.
Montagne Deux Mamelles – fabelhafte Ausblicke
Angetan von Mauritius Berggipfeln, stösst Roland im Internet auf eine weitere kurze Gipfelbesteigung. Auch mich juckt es in den Füssen, erneut stellen wir den Wecker auf halb sechs in der Früh. Wie auch der letzte Berg liegt der Montagne Deux Mamelles im Bezirk Moka im Inselinneren, was eine halbstündige Autofahrt Richtung Süden bedeutet. Als wir kurz nach sieben losmarschieren, weht uns ein kühler Wind ins Gesicht. Geradeaus entlang Zuckerrohrplantagen, haben wir unser Ziel bestens im Blick. Wie es der Name sagt, besteht der Deux Mamelles aus zwei Gipfeln – wir peilen den östlichen an. Dank Offline-Navi, das den Weg kennt, verpassen wir den richtigen Abzweig nicht. Durch Wald steil bergauf, gewinnen wir nun rasch an Höhe, ebenso rasch geraten wir ins Schwitzen. Auf einer kleinen Lichtung anerbieten sich erste Ausblicke von oben. Etwas rastlos halten wir nur einen Augenblick inne und hetzen weiter. Um den Wettlauf gegen die unberechenbaren Wolken nicht zu verlieren, legen wir gar etwas an Tempo zu. Der schmale Pfad bahnt sich jäh durch dichtes Unterholz und bugsiert uns über grosse Steine. Schnaubend greife ich nach unschuldigen Bäumchen am Wegesrand, um mich mit den Armen hochzuziehen. Dem Dickicht entkommen, ist eine halbe Stunde verstrichen und es fehlen nur noch wenige Meter bis zum höchsten Punkt.
Der Puls rast, Schweiss rinnt, wir sprudeln vor Begeisterung. Die aufgezogenen Wolken umarmen weder uns noch die umliegenden Berge, sondern ballen sich harmlos in der Ferne – zumindest vorläufig. Viel Platz gibt es hier oben nicht; wir sind erleichtert, dass wir die 642 Meter hohe Felskuppe nicht teilen müssen. Unser Herz galoppiert nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Freude. Die grandiose Rundumsicht ist zwar ähnlich wie vom letzten Berg, allerdings sind wir dem spektakulären Pieter Both viel näher. Der mit 820 Metern zweithöchste Gipfel ist ein landschaftliches Highlight der Insel, auf dessen Spitze balanciert ein ballförmiger Gesteinsbrocken scheinbar schwerelos. Die Besteigung ist nicht einfach, gefährliche Kletterpassagen sind zu meistern, ein Führer ist empfohlen. Nichts für mich. Den attraktiven Bergspitz nun anzuhimmeln, ist aufregend genug. Um die markante Felsformation ranken sich verschiedene Mythen und Sagen. Im Volksmund heisst es beispielsweise: Solange der runde Stein dort oben verweile, gehe es Mauritius gut.
Die botanische Schatzkiste von Pamplemousses
Auf dem Rückweg machen wir einen Zwischenhalt in Pamplemousses. Der Ort verdankt seine Bekanntheit nicht den grossen Zuckerfabriken oder der ältesten Kirche, sondern dem hochgelobten Botanischen Garten. Seine Geschichte geht auf einen Gouverneur zurück, der sich hier im Jahre 1735 ein Landhaus mit Gemüsegarten errichten liess. Später wurde aus den einstigen Gemüsebeeten eine Parkanlage geschaffen, mit tropischen Pflanzen aus allen Erdteilen. Der Garten ist heute insbesondere für die Riesenseerosen bekannt und sei nicht nur für Botaniker ein Muss. Weil ein Besuch der weltberühmten Grünanlage zum Pflichtprogramm geführter Tagestouren gehört, ist es von Vorteil, dass die Uhr erst viertel nach neun anzeigt. Noch ist der riesige Parkplatz fast leer.
Als erstes streben wir dem Herzstück des Gartens entgegen, dem rechteckigen Wasserlilien-Pool. Gut haben wir am Eingang einen praktischen Übersichtsplan erhalten, ansonsten wären wir im grünen Labyrinth heillos verloren. Noch haben wir das Becken für uns alleine, doch die ersten Besuchergruppen sind uns auf den Fersen. Auf dem trüben Wasser schwimmen wagenradgrosse Blätter, die wie Serviertabletts anmuten. Die gigantischen Riesenseerosen stammen ursprünglich aus Südamerika. Ihr Durchmesser erreicht bis zu zwei Meter und sie bringen ein stolzes Gewicht von bis zu 45 Kilogramm auf die Waage. Beeindruckt, aber gleichzeitig auch etwas enttäuscht, versuchen wir, ein gutes Foto hinzukriegen. Die im Kopf gespeicherten Bilder aus Zeitschriften oder Internet sind reizvoller wie die heutige Wirklichkeit: Der Teich ist nicht prallvoll und viele der hellgrünen Blätter sind zerfleddert.
Die exotische Attraktion hinter uns gelassen, bummeln wir durch die schattigen Alleen, wo noch über 500 andere Pflanzenarten gedeihen. Die Artenvielfalt an endemischen und ausländischen Gewächsen ist riesig und reicht von Königspalmen über Mahagonibäume und Riesenfarnen bis zu Lotusblüten. Eine botanische Schatzkiste.
Vom Nordwesten in den Südosten
Nach einem letzten Abend am geliebten Meer packen wir tags darauf wehmütig unsere Siebensachen. Mit rund hundert Kilometern ist die allerletzte Reiseetappe die bisher längste und führt mitten durchs beschauliche Herz der Insel. Die Morgensonne lacht, der Himmel wölbt sich stahlblau. Im Südosten reichen die Ausläufer der Montagnes Bambous bis zur Küste, und die Route entlang dem Meer ist malerisch. Gleichzeitig ist der Streckenabschnitt geschichtsträchtig, am Pointe du Diable erzählen alte Kanonen vom einstigen Kampf der Franzosen gegen die Engländer. Um die „Teufelspitze“ mit der vorgelagerten Inselwelt aus der Vogelperspektive zu erspähen, kraxeln wir den bewaldeten Berghang hoch. Es ist rutschig und wir quälen uns an stacheligem Gestrüpp vorbei, bis wir ausser Puste den angepeilten Felshöcker erreichen. Die Strapazen haben sich gelohnt, die Aussicht ist sensationell und reicht über den leuchtenden Ozean bis hin zur zerklüfteten Berglandschaft. Wieder auf der Küstenstrasse unterwegs, queren wir den Ort Vieux Grand Port. Der „Alte Grosse Hafen“ ist die Wiege der mauritischen Geschichte: Die Holländer waren die ersten, die hier 1598 an Land gingen und die Insel zur Kolonie erklärten.
Nachmittags treffen wir in Mahébourg ein. In der Nähe des Flughafens, im Stadtviertel Beau Vallon, haben wir für die letzten beiden Nächte ein Häuschen gebucht. Eine Angestellte mit indischen Gesichtszügen erwartet uns bereits, ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Die warmherzige Frau bringt uns in einen der schnuckeligen Bungalows am Rande des grossen Gartens. Das Schmuckstück des Anwesens ist das koloniale Gutshaus aus dem 18. Jahrhundert, wo sich im Erdgeschoss ein hochgelobtes Restaurant befindet. Als wir uns im Pool erfrischen, trottet schwanzwedelnd ein Hund ums Eck und kläfft aufgebracht am Beckenrand, so als sässen wir in seiner Badewanne. Eine angenehme Brise streift durch die Palmwedel, mächtige Laubbäume spenden Schatten. Ich klettere in eine der einladenden Hängematten, entspannt lasse ich meine Seele baumeln. Der heisse Sommertag geht in einen lauen Abend über. Insekten zirpen, im Nu dunkelt es ein. Die Hindus feiern heute Divali. Anlässlich des Lichterfestes brennen im Garten zahlreiche kleine Öllichter. Von einem zauberhaften Lichtermeer umgeben, schlemmen wir auf der Restaurantterrasse ein leckeres Curry und stossen mit einem Glas Rotwein auf den hinduistischen Feiertag an.
Auf dem „Löwenberg“ – ein allerletzter Hochgenuss
Der letzte Tag auf Mauritius ist angebrochen, ein letzter Berg steht auf unserer Wunschliste. Schon in den ersten Ferientagen flirteten wir auf dem Balkon unseres Strandresorts mit dem Lion Mountain, sofern Petrus uns gut gesinnt war. Ob das Wetter heute mitspielt, ist ungewiss. Nach einem gemütlichen Frühstück im Garten düsen wir munter los, auf der Küstenstrasse retour bis Grand Vieux Port, wo der Lion Mountain oberhalb des Dorfes thront. Aus Süden gesehen erinnert der „Löwenberg“ tatsächlich an einen liegenden Löwen. Es ist schwül, die Luft steht beinahe still. Ein schmaler Weg zwängt sich durch weite Felder, wo Zuckerrohr über unsere Köpfe ragt. Ehe es aufwärts geht, klebt das T-Shirt am Körper, und ich fühle mich antriebslos. Bald verschwindet der Pfad im lauschigen Wald und zwingt uns steil in die Höhe. Trotz gemächlichem Gang bade ich rasch im eigenen Saft – trocken ist nur die Kehle. Erste Sonnenstrahlen küssen unsere Wangen und färben das Meer türkisblau. Bei einer Verschnaufpause lassen wir unsere Augen verträumt über die Lagune wandern.
Den Durst gestillt, strolchen wir weiter, immerzu über das Rückgrat des „Löwen“. Allmählich entpuppt sich der jäh ansteigende Weg als anspruchsvolle Kletterpartie, konzentriert bezwingen wir felsiges Terrain auf allen Vieren. Blutgierige Mücken umschwärmen unsere Beine, seufzend bewaffnen wir uns mit einer Schicht Insektenschutz. Über weichen Waldboden und wild wuchernde Wurzeln kommen wir schliesslich nach einer gefühlten Ewigkeit auf dem flachen „Kopf“ des Löwen an. Neunzig schweisstreibende Minuten sind vergangen, 480 Höhenmeter gekillt. Noch haben wir den Gipfel ganz für uns alleine – leider fehlt auch von der Sonne jegliche Spur. Über das hügelige Hinterland wabert sogar Nebel. Während die grauen Schwaden sämtliche Bergspitzen verschlingen, verschlingen wir glücksbringende Divali Kekse: eine zuckersüsse Aufmerksamkeit unserer Gastgeber.
Nach einer geraumen Weile trudelt eine grössere Gruppe ein, und die Idylle geht in lautes Geschwätz über. Die Zeit ist reif für den Abstieg. Und bald auch, um Mauritius Adieu zu sagen und zu danken für die wunderbare Inselzeit. Morgen früh um fünf wird uns der Weckalarm aus den nächtlichen Träumen holen, damit wir das Flugzeug in die Heimat nicht verpassen. Bis dahin verbleiben noch ein paar Stunden, erstmals klettern wir vom „Löwen“ runter. Der markierte Rundwanderweg lotst uns zu einem tiefer liegenden Aussichtspunkt. Die Sonne kämpft unerbittlich, der fahle Schein erhellt die Bucht von Mahébourg nur zaghaft. Eine allerletzte Pause am Berg – mit zitternden Knie und Glücksgefühlen im Herzen.
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