Von Elm nach Flims – wanderbar!
Kräftige Sonnenstrahlen wärmen behaglich unsere Rücken, währenddessen wir herzhaft in Wurst und Brot beissen. Schiebt sich erneut eine Wolkenschwade vor die Sonne, überzieht umgehend eine Gänsehaut meine nackten Beine. Auch ein sanfter Luftzug fühlt sich auf stolzen 2627 Metern Höhe empfindlich frisch an. Zaghaft flattern bunte Gebetsfahnen im Wind, obschon wir nicht etwa im fernen Himalaya weilen. Entkräftet das wohlverdiente Picknick schnabulierend, schweifen unsere Augenpaare immer wieder über die grandiose Gebirgskulisse – vom Glarner- bis ins Bündnerland. Hoch oben zwischen Elm und Flims thronen wir auf dem Segnespass – wanderbar. Wunderbar auch die Fernsicht. Ein Blickfang stellt der vergletscherte Vorab mit seiner schneeweissen Haube dar, doch auch die restliche Bergwelt ist hinreissend. Das frühe Aufstehen hat sich gelohnt…
Sieben Stunden zuvor. Erbarmungslos schrillt uns der Wecker aus dem Schlaf. Auch als wir kurz vor sechs auf leisen Sohlen die Wohnungstür abschliessen, ist es noch immer stockdunkle Nacht. Auf der Zugfahrt Richtung Toggenburg setzt allmählich die Dämmerung ein und am Horizont zeichnen sich klare Umrisse der Gebirgszüge ab. Der wolkenlose Himmel verspricht einen wunderbaren Wandertag, auch wenn der Wetterbericht diese Meinung nicht gänzlich teilt und mittags erste Regenzellen androht. Kaum ins Glarnerland hineingefahren, ragen beidseits mächtige Bergwände auf – viel zu hoch für ein frühmorgendlicher Sonnenstrahl. Zugendstation nach zweimaligem Umsteigen in Schwanden. Im vollbesetzten Postauto kurven wir tiefer und tiefer ins Sernftal hinein, bis die Fahrt vor einer imposanten Kulisse aus Alpen und Felsen ein Ende nimmt.
Kurz vor acht. Von Elm, auf knapp 1000 Metern Höhe gelegen, geht es nur noch zu Fuss weiter. Wobei das nicht ganz der Wahrheit entspricht, führt auf die Niderenalp eine Luftseilbahn. Eigentlich. Doch Roland hat kein offenes Ohr, als ich zögernd darauf hinweise, dass der Wegweiser bis zum Segnespass mit langen fünf Stunden rechnet sowie die Wetterprognose besser sein könnte. Schweigend gebe ich mich geschlagen. Der teilweise aus dem Fels gesprengte Weg windet sich steil durch die tief eingeschnittene Tschinglenschlucht. Bedacht setze ich langsam einen Fuss vor den nächsten, um nicht schon in der ersten Viertelstunde völlig ausser Atem zu geraten. Derweil schwebt die Gondel beschwingt über uns hinweg…
Eine gute Stunde später erlangen wir die besagte Niderenalp auf knapp 1500 Metern. Nach einer kurzen Verschnaufpause und der Bewunderung des sagenhaften Panoramas, schustern wir auch schon weiter. Stets die zackigen Tschingelhörner und das berühmte Martinsloch vor Augen, geht es im saftig grünen Alpgelände jäh aufwärts. Durch das sagenumwobene Felsfenster, ungefähr zwanzig Meter hoch und breit, wirft die Sonne jedes Jahr verlässlich am 13. März und am 30. September ihre Strahlen auf den Kirchturm von Elm. Dieses spezielle Ereignis dauert nur etwa zwei Minuten, danach verdrückt sich der glühende Ball wieder hinter Fels, um etwa zehn Minuten später endgültig aufzugehen.
Über grasbewachsene Felsen schnauben wir höher und höher – der Segnespass noch in weiter Ferne. Obwohl meist im kühlen Schatten des hohen Gebirgsmassivs, ist der Aufstieg schweisstreibend. Es gilt, eine Handvoll exponierte Stellen über einen herab plätschernden Bach mit glitschigen Steinen zu meistern. Ansonsten ist die Route einfach, jedoch stotzig. Neckisch bauschen sich harmlose Wölkchen am blauen Himmel, und schon bald bilden sich über den Bergkuppen graue Wolkenvorhänge. Dennoch gestatten wir uns eine stärkende Znünipause, um unsere Energiespeicher bei Laune zu halten.
Über hohe Felstritte erreichen wir mit zäher Ausdauer den letzten Abschnitt, einen langen steilen Schuttrücken. Auf dem losen Geröll drohen unsere Füsse manchmal wegzurutschen. Immer wieder lege ich sachte den Kopf in den Nacken und werfe einen scheuen Blick hinauf, doch das „Oben“ kommt nur langsam näher. Dann endlich, die letzten Schritte hinter uns, stehen wir mittags gegen zwölf mit 1650 Höhenmetern in den Knochen auf dem angepeilten Segnespass. Ich bin überrascht, haben wir die Strecke rascher bezwungen, wie auf dem Wegweiser in Elm angedeutet. Auf die noch unbekannte Seite Richtung Bündnerland eröffnet sich ein Blickfeld, wo graues Geröll die Hauptrolle spielt. Schneefelder lockern die karge Szenerie etwas auf, wie weisse Farbkleckse.
Allmählich gesellen sich immer mehr Wanderlustige zu uns und die Wolkengebilde verdüstern sich. Den letzten Bissen verdrückt, nehmen wir noch einen allerletzten Augenschein der Glarnerseite, bevor wir uns an den Abstieg wagen. Jäh fällt das steinige Gelände vor unseren Füssen ab. Metallstufen und Ketten entschärfen die kurze, aber ziemlich abschüssige Passage durch eine Felsrinne hinab zum ersten Schneefeld auf dem oberen Segnesboden. Im felsigen, grasigen Hochtal gestaltet sich der Wegverlauf gnädig. Noch immer verfolgt uns das bemerkenswerte Martinsloch, jetzt aus einer neuen Perspektive.
Die Sonne zwar schon lange mit Abwesenheit glänzend, fallen erste dicke Tropfen trotzdem unverhofft. Und ehe wir uns versehen, giesst es in Strömen. Bald schmatzt der aufgeweichte Boden unter unseren Sohlen und die Hosen sind klatschnass. Unser Tagesziel, die Segneshütte, ist immerhin bereits in Sichtweite. Auf dem unteren Segnesboden angekommen, geht es noch eine Weile geradeaus. Die Wasserläufe in der Hochebene wechseln ständig ihren Verlauf. Neue Seen entstehen und verschwinden wieder, und das Flachmoor dieses kesselförmigen Schwemmbodens bildet immer wieder neue Muster. Plötzlich blinzeln vereinzelte Sonnenstrahlen durch die aufgelockerte Wolkendecke und schon bevor wir zwei Stunden nach der Mittagsrast die Hütte erreichen, vermögen Regenjacken und Hosen vollständig zu trocknen.
Die Segneshütte ist eine der ältesten Berghütten der Region und liegt auf einer Höhe von 2100 Metern, mitten in der Tektonikarena Sardona auf dem unteren Segnesboden. Erstmals beziehen wir unser seit Monaten reserviertes Zimmer, das mit rustikalen Holzbalken und rotweiss karierter Bettwäsche urchig anmutet. Ein kleines Fenster gewährt uns Blick auf Flims, das weit unten im Tal liegt. Die Temperaturen etwas abgekühlt und das Wetter nun wechselhaft, gönnen wir uns spätnachmittags auf der Terrasse einen feinen Huuskafi. Hinterher schicken wir noch eine heisse Tasse Tee, bevor wir uns zusätzlich unter der dicken Decke im heimeligen Zimmer aufwärmen, bis das Abendessen duftet. Nachts regnet es unaufhörlich.
Zum Glück ist der nasse Spuk bei Tagesanbruch vorbei. Die Morgensonne lächelt vergnügt durch unser Zimmerfenster und animiert zum Aufstehen. Das Frühstücksbuffet ist übersät von Leckereien, die uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Selbstgebackenes Vollkornbrot, Gipfeli, Alpkäse, frisch aufgeschnittene Salami, und dazu einen Cappuccino oder Latte Macchiato. Grosse Panoramafenster erhellen die gute Stube – wir schlemmen sogar mit Aussicht. Sowieso geht es hier urgemütlich zu und her. Die Gästeschar ist überschaubar, Massenlager gibt es keines.
Die Wanderschuhe geschnürt und den Rucksack geschultert, spazieren wir nochmals zum wildromantischen Segnesboden mit seinen zahllosen mäandernden Wasserläufen. Stellenweise ist der Weg noch feucht und matschig, doch das Zurückkehren lohnt sich alleweil. Das Landschaftsbild ist im Vergleich zu gestern wie ausgewechselt – was Sonnenschein zu bewirken vermag. Das Gras leuchtet in einem satten Moosgrün und die aussergewöhnliche Gebirgspracht mit den messerscharf gezackten Tschingelhörnern kommt stimmungsvoll zur Geltung. Ein postkartenreifes Motiv – wir sind überwältigt.
Die rauen Zacken der neun Gipfel sind nicht zu übersehen und einzigartig. Ein guter Ort, um die verblüffenden Auswirkungen der Glarner Hauptüberschiebung zu betrachten. Schon davon gehört? Ein geologisches Phänomen – hier hat sich erdgeschichtlich Unerhörtes zugetragen. Eine wie mit dem Lineal gezogene markante Linie in den Bergflanken fällt auf, helleres und dunkleres Gestein grenzen sich klar voneinander ab. Älteres ruht auf Jüngerem, umgekehrt als normal – der Berg steht hier Kopf. Durch den Zusammenstoss der afrikanischen und der europäischen Tektonikplatte drückte sich die ältere Gesteinsschicht über die jüngere. Ein gigantischer Kraftakt der Alpenbildung, passiert vor angeblich rund 30 Millionen Jahren. Seit 2008 gilt die Tektonikarena Sardona als UNESCO-Weltnaturerbe.
Gegen Mittag vermehren sich die Wolken dramatisch und wir verabschieden uns, schon fast wehmütig, von diesem beeindruckenden Fleck. Entlang dem Wasserweg – „Trutg dil Flem“ in romanischer Sprache – steigen wir in tiefere Lagen. Meist geht es moderat bergab, wir sind erleichtert, lieben unser Knie keine allzu steilen Abstiege. Von der Quelle im oberen Segnesboden sprudelt die Flem bis nach Flims hinab. Manchmal leitet uns der Wanderweg direkt am gurgelnden Bachlauf entlang durch enge Schluchten und märchenhaften Wald, ansonsten über liebliche alpine Landschaften, vorbei an Maiensässen.
Während unserem Marsch ins Tal überqueren wir sieben eigens für den Wasserweg gestaltete Brücken, jede anders konstruiert. Staunend halten wir inne und lauschen der Wassermusik. Der wilde Bergbach hat einmalige landschaftliche Spuren gezeichnet. Vom eisblauen Wasser ausgewaschen, sind die Felsen entweder glatt geschliffen oder rau und zerfurcht. Berauschende Bilder… Erst ziehen wir in Erwägung, das letzte Stück ab Foppa mit der Sesselbahn zu gondeln, doch dann folgen wir begeistert dem reizvollen Weg im Zeichen des Wassers. Letztendlich erlangen wir mit eigener Muskelkraft das Dorfzentrum von Flims, auf knapp 1100 Metern.
Zu Fuss von Elm nach Flims – wunderbar. Es ist faszinierend, wandernd in einer „ganz anderen“ Gegend zu enden, zumindest hinsichtlich Strassenverbindungen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Bevor wir um halb fünf das Postauto besteigen, schnappen wir uns am Kiosk einen Eiskaffee, der wohltuend unsere trockenen Kehlen benetzt. Im Zug ab Chur peitschen erste Regengüsse an die Scheibe. Heute haben die Wolken genügend lange dicht gehalten. Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht und im Körper breitet sich ein gutes Gefühl aus, obschon gewisse Muskeln zwicken. Trotz einiger Strapazen war es schlichtweg fantastisch, eine für uns eher fremde Bergregion zu Fuss zu entdecken…
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