Von Vulkanen umzingeltes Bajawa
Halb sieben in der Früh. Pünktlich steht der gebuchte Shuttle-Bus auf der Matte. Es dauert lange, bis alle restlichen Passagiere eingesammelt sind – sozusagen eine kostenlose Stadtrundfahrt durch Ende. Eine geschlagene Stunde später sind wir zurück im Stadtzentrum, wo wir zugestiegen sind. Etwas länger schlafen wäre lukrativer gewesen… Die Küstenstrasse windet sich dem Meer entlang, bevor die Strecke in Haarnadeln wieder an Höhe gewinnt. Anstelle von Kokospalmen und fruchtigen Bäumen dominiert nun Bambus die Gegend. Unser Fahrer scheint auf der Flucht. Ständig sitzt er anderen Fahrzeugen satt auf, bremst abrupt und hupt energiegeladen, bis er endlich überholen kann. Wir hoffen, auch unser Schutzengel ist heute früh aus den Federn gekrochen… Gegen Mittag spuckt uns der Minibus in Bajawa im westlichen Teil von Flores aus.
An der befahrenen Hauptstrasse ins Zentrum liegt unsere kleine Unterkunft – ein in warmen Farben gehaltenes Homestay mit holländischen Besitzern. Wir haben Glück und können auch ohne Vorreservation noch eines der sauberen, hübschen Zimmer ergattern. Wie sich später herausstellt, ist das Frühstück eines der leckersten und üppigsten in Indonesien überhaupt, das hausgebackene Vollkornbrot ein Schmaus. Auf der überdachten Veranda laden uns ein paar bequeme Sofas zum genüsslichen Verweilen ein, sofern wir den Strassenlärm auszublenden vermögen, was nicht immer gelingt. Die Motorräder knattern oft in ohrenbetäubender Lautstärke vorbei, wie wir es von der Heimat nicht kennen. Noch eine gefühlte Ewigkeit dröhnen sie in unseren Ohren, auch wenn sie längst ausser Sichtweite sind…
Bajawa liegt im Inselinneren auf knapp 1200 Metern Höhe, wo die Temperaturen abends angenehm fallen. Die kleine Stadt ist von Vulkanen regelrecht umzingelt… Schnell haben wir uns im dörflichen Zentrum einen Überblick verschafft. Auf unserem Bummel werden wir häufig von der aufgeschlossenen Bevölkerung angehauen. “Where are you going?”, fragen sie neugierig. Manchmal stellt diese Frage einer der wenigen Sätze dar, den die Leute in Englisch beherrschen. Stets wollen die Indonesier hartnäckig unser Ziel in Erfahrung bringen – doch in Momenten wie diesen, ist lediglich der Weg unser Ziel. So antworten wir mit einem der wenigen indonesischen Ausdrücke, die wir kennen. “Jalan-Jalan!” Damit ist alles gesagt, alle sind zufrieden und lächeln. Oft winken uns die Menschen aber auch nur zu und grüssen freundlich… Auffallend sind die zahlreichen Padang-Restaurants, die ihre vorgekochten Speisen in einem Schaufenster zu einer Pyramide auftürmen. Die Padang-Küche stammt aus der gleichnamigen Stadt auf der Insel Sumatra. Ihre stark gewürzten Fleisch- und Gemüsegerichte sind weitum bekannt und beliebt. Doch wir können dem lauwarmen oder sogar kalten Essen nichts abgewinnen. Auch die indonesischen Klassiker Nasi Goreng oder Mie Goreng – gebratener Reis oder Nudeln – haben wir bereits satt. Deshalb halten wir uns an die eher touristisch orientierten Lokale mit einer etwas breiteren Speisekarte, wo wir uns kulinarische Abwechslung mit Kartoffeln oder Spaghetti verschaffen.
Alfons wohnt in einem Nachbardorf im Süden und kennt die Gegend wie seine Westentasche. Der sympathische Mann arbeitet schon jahrelang als Führer. Wenn er lacht, was er oft tut, kommen seine schiefen Zähne und Zahnlücken zum Vorschein. Zu dritt schustern wir am Fusse des Gunung Inerie, einem nahezu exakt konischen Vulkankegel. “Das Land ist äusserst fruchtbar”, klärt uns Alfons auf, “nebst Mangos, Papayas und Bananen wachsen hier Nüsse wie Macadamia, Cashew und natürlich Kokosnüsse. Auch Gewürznelken und Vanille gedeihen prächtig. Nur für Reis ist es zu trocken, dafür wird Mais und Maniok angebaut.” Nach einer Wanderstunde liegt Tolela vor uns. Im kleinen traditionellen Ngada-Dorf leben nur 90 Einwohner. Wir verewigen uns mit unseren Namen handschriftlich in einem Buch, erwartet wird eine kleine Spende. Bevor wir uns einen Überblick im malerisch in die Vulkane eingebetteten Dorf verschaffen, verrät uns Alfons einiges über die Kultur der Ngada.
“Bereits im 16. Jahrhundert wurde die Bevölkerung von Flores von portugiesischen Missionaren zum Katholizismus bekehrt. Bis heute aber ist das Volk der Ngada stark in ihrer ethnischen Religion verwurzelt”, erzählt uns der 48-jährige Strahlemann. Zwar fast im selben Alter wie Roland, doch sein Gesicht ist von einigen Jahrringen mehr gezeichnet… “Die Menschen leben ihn ihren kleinen, isolierten Dörfern in strohgedeckten Holzhäusern teilweise noch wie vor Jahrhunderten. Ihre Häuser sind um einen grossen rechteckigen Platz erbaut, in dessen Mitte sich nebst Steinaltaren auch reich mit Schnitzereien verzierte Schreine zur Ahnenverehrung finden. Diese Heiligstätten sind entweder für männliche oder weibliche Vorfahren, streng geschlechtlich getrennt.” Gebannt lauschen wir seinen spannenden Erläuterungen, immer wieder fordert er uns auf, Fragen zu stellen.
Nach dem Rundgang wandern wir weiter und gelangen in einer halben Stunde nach Gurusina, einem weiteren dieser traditionellen Dörfer. Die Holzhäuser mit ihren hohen Dächern und riesigen Verandas sind stets nach dem gleichen Prinzip angeordnet, ähneln einander sehr. Bei unserem Besuch begegnen wir vorwiegend Frauen und Kindern, die meisten Männer arbeiten tagsüber auf dem Feld. Die Leute reden kein Englisch, so sprechen wir die Sprache des Lächelns und einander Zunickens. Eine ältere Frau schält in mühseliger Handarbeit Macadamia-Nüsse, andere Damen weben gemusterte Tücher. “Die Frauen haben vom Betelnusskauen oft rot verschmierte Münder und verfärbte Zähne”, warnte uns Alfons schmunzelnd, “meiner Frau habe ich es verboten, es widert mich an!” Die Männer rauchen Tabak, was den Frauen verboten ist, deshalb kauen sie Betelnüsse – verschaffen sie sich im weitesten Sinne Gleichberechtigung? Alfons sieht das wohl nicht so…
Unser Fahrer wartet im Schatten, bringt uns ein paar Kilometer weiter zu heissen Quellen, den Malange Hotsprings. Ein kochend heisser Fluss trifft sich mit einem eiskalten, an dessen Zusammenfluss man angenehm baden kann. Die beiden Wasser vermischen sich jedoch nicht vollständig, wir können eines unserer Beine ins kalte und eines ins heisse strecken, was ein spezielles Gefühl ist. Von einer wunderbaren Naturkulisse umgeben, geniessen wir unser Bad im Freien… Danach wartet Alfons noch mit einem letzten Ngada-Dorf auf. Sechzehn Kilometer südlich von Bajawa liegt Bena, das von Touristen am meisten besuchte traditionelle Dorf. In neun Clans leben angeblich 275 Menschen friedlich vereint, auch hier prägen bis heute animistische Rituale und Ahnenkult das tägliche Leben. Es wird eine Eintrittsgebühr kassiert, doch dennoch offenbart sich das Dorf in unseren Augen authentisch. Selbstverständlich versucht die eine oder andere Familie ihre Webereien oder landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Geld zu verwandeln, doch unaufdringlich und in geringem Ausmass… Vom Rande des reizvollen Dorfes bietet sich ein herrlicher Panoramablick über die von Vulkanen geprägte Gegend.
Wie bestellt und auf die Minute pünktlich holt uns Fery frühmorgens von unserem Homestay ab. Der fröhliche Fahrer karrt uns zum nördlich der Stadt gelegenen Ausgangspunkt für den 1753 Meter hohen Vulkan Wawo Muda mit seinen – manchmal ausgetrockneten – Kraterseen. Doch Rolands Nichte Tamara, die kürzlich auf Flores weilte, schrieb uns, dass sich die Wanderung als solches bereits lohne. Ihr haben wir den sagenhaften Tag zu verdanken… Langsam führt der Weg durch ein lichtes Waldstück bergan. Wildes Rauschen im Blätterdach, raschelndes Laub am Boden, sanftes Vogelgezwitscher. Wir fühlen uns fast etwas in den heimatlichen Herbst versetzt. Wie ruhig und friedlich es ist, dass gelegentlich ein Motorroller unseren Weg kreuzt, erstaunt uns nicht. Doch mehrheitlich gehört die beschauliche Vulkanidylle uns allein, und dies trotz Sonntag. Auch das Wetter ist uns wohlgesinnt, der Himmel leuchtet in kräftigem Stahlblau, nur über den Bergkämmen hängen neckisch ein paar weisse Wattebäusche. Der Anblick des Wawo Muda-Kraters gleicht dem einer Kiesgrube, wie befürchtet sind die Seen ziemlich trockengelegt – meistens ist nur in der Regenzeit Wasser zu erwarten. Doch der Ausblick auf den wohlgeformten Vulkan Inerie in harmonischer Umgebung ist traumhaft – ein perfekt inszeniertes Landschaftsbild. Zwar umspielen weisse Wolkenschwaden seinen spitzen Gipfel, verkleiden ihn jedoch nie vollständig. “Sollen wir uns morgen an den Aufstieg wagen?”, frage ich Roland, mir selbst noch nicht ganz sicher. Wir sitzen, staunen und können unser Sonntagsglück kaum fassen. Zufrieden nehmen wir nachmittags den Rückweg unter die Sohlen. Fery erwartet uns bereits sehnsüchtig. Er hat unseren Anruf gar nicht erst abgewartet, dachte wohl, so lange verweilt niemand dort oben oder möchte sich sein Geschäft sichern…
Der Wecker schrillt – halb vier Uhr in der Früh. Müde schälen wir uns aus der Bettdecke, stopfen unsere Magen mit frischem Brot. Ein Fahrer lenkt uns durch die Dunkelheit, lädt uns beim Startpunkt für das heutige Vorhaben ab. Gunung Inerie – wir kommen! Unser lokaler Führer Bimo spricht kein Wort Englisch, trägt Flip-Flops und ein um die Schultern geschlagenes wärmendes Tuch. Fünf Uhr. Der Tag bricht an, wir können den schmalen Weg mittlerweile von blossem Auge ausmachen. Rötliche Streifen zieren den Himmel, bald guckt der Sonnenball über den Horizont. Schnell steigt der von Lavageröll übersäte Pfad steiler an. Immer auf der Hut, keinen Fuss zu vertreten, gelangen wir zügig den steilen bewachsenen Hang hinauf. Die Stufen sind hoch, die Glieder murren. Bimo weist uns den nicht immer klar ersichtlichen Weg, schmunzelt ununterbrochen. Macht er sich über uns langsamen, mit Schweiss überströmten Touristen in Wanderschuhen lustig? Doch es ist bestimmt nur seine gutherzige Art, mit uns zu kommunizieren.
Die zweite Hälfte des Aufstieges hat es in sich, es gilt, eine fiese Geröllhalde mit losem, fein und grob durchmischtem Lavagestein zu bezwingen. Es ist sehr rutschig, wir wissen nie was hält und was eben nicht, können uns immerhin manchmal an kleinen Bäumen und Büschen etwas festklammern. Auf allen Vieren kraxeln wir in die Höhe, während Bimo mittlerweile barfuss über das scharfe Geröll wieselt – unglaublich. Wir versuchen, noch nicht ans Runtergehen zu denken… Nach anstrengenden zweieinhalb Stunden ist der Kraterrand erreicht. Erleichtert atmen wir tief durch und gönnen uns eine kurze Pause. Unser Blick fällt tief in den Krater mit seinen steil abfallenden Felswänden. Auf über 2000 Metern weht ein bissiger Wind und deshalb machen wir uns bald für die allerletzte Etappe auf. Zwanzig Minuten später stehen wir überwältigt auf dem 2245 Meter hohen Gipfel, dem höchsten Vulkan Flores. Die Rundumsicht dort oben ist schlichtweg grandios, noch heute fehlen mir fast die Worte. Wir lassen unseren Blick über die grüne, hügelige Landschaft schweifen, würdigen die weiteren Vulkanberge unter uns. Drehen wir uns zur anderen Seite, leuchtet der blaue Ozean verführerisch, der Weitblick auf die geschwungene Küstenlinie ist einmalig. Das Wetter ist fantastisch, könnte uns ein Nebelvorhang einlullen, was nicht selten der Fall ist. Doch frühmorgens ist die Chance auf eine klare Sicht am besten – spätestens jetzt wissen wir, warum wir in aller Herrgottsfrühe aufgestanden sind. Wir werden für unsere Strapazen mehr als entschädigt!
Eine knappe Stunde verweilen wir auf dem vegetationslosen Gipfel, den wir ganz für uns allein haben. Wir können uns kaum sattsehen und füllen unsere Energiespeicher mit lokalen Süssigkeiten, bieten auch Bimo davon an. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat unser zäher Führer zu unserem Erstaunen noch keinen Schluck Wasser zu sich genommen, und wir bereits je zwei Liter in uns gekippt… Neun Uhr. Es bilden sich erste, noch harmlose Quellwolken und segeln auf unseren Vulkan zu. Zeit also abzusteigen, wollen wir auch die brütende Mittagshitze möglichst umgehen. Unser Kummer war berechtigt, der heimtückische Abstieg verlangt uns alles ab. Wir müssen enorm aufpassen, ausrutschen ist zwar unvermeidbar, doch wollen wir möglichst nicht hinfallen oder wegdriften. Zwischenzeitlich brennt die Sonne gnadenlos. Konzentriert schaffen wir uns unter den Fittichen von Bimo Meter um Meter hinab. Ohne uns bräuchte er wohl nur die Hälfte der Zeit… Geschafft, endlich kommen wir mittags nach insgesamt sieben Stunden heil wieder unten auf 1150 Metern an – ausgelaugt, aber rundum glücklich. In Höhenmeter ist die beschwerliche Besteigung zwar in etwa vergleichbar mit jener von Schwägalp bis Säntis. Der Unterschied ist, dass wir den Säntis immer mal wieder bezwingen, den Gunung Inerie aber kein zweites Mal in Angriff nehmen würden. Doch das imposante Unterfangen hat sich mehr als gelohnt, auch wenn es uns – zugegeben, insbesondere mir – noch drei Tage später in den Muskeln zerrt…
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